Home Region Schweiz/Ausland Sport Rubriken Agenda
Sport
02.01.2024

Wie der Radsport nach St.Gallen kam, Teil 2: Das Fahrrad in seinen Anfängen

Viel anders sieht der Marktplatz heute auch nicht aus ...
Viel anders sieht der Marktplatz heute auch nicht aus ... Bild: Stadtarchiv SG
Zum ersten Mal in ihrer Geschichte endet die Tour de Suisse 2023 in der Gallusstadt. Grund genug für Oliver Ittensohn vom Stadtarchiv St.Gallen, einen Blick zurück in die Geschichte des Radsports zu werfen. Wie hat das mit den Velos angefangen? Wie entwickelte sich der Radsport? Und welche Rolle spielte St.Gallen dabei? Heute: Das Fahrrad in seinen Anfängen – etwas für Kenner und Abenteurer.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts blieb das Fahrradfahren etwas für Kenner. Bezeichnenderweise übte das neue Gefährt aber auf die verschiedensten Menschen eine ungeheure Faszination aus. Dabei ging es nicht in erster Linie um die Fortbewegung, sondern um das Neue, das Faszinierende, das Abenteuerliche: Sportprofis und Amateure, Akrobaten und Adlige, Männer wie Frauen; sie alle verband die Lust auf das Neue und Unbekannte.

Einzige Bedingung: Man musste es sich leisten können, denn Fahrräder waren in ihrer Frühzeit sehr teuer. Fahrräder auf der Strasse waren etwas Aussergewöhnliches und sorgten für Aufsehen.

Früh waren sie bereits beliebte Motive für Fotografien.

Aus der Stadt St.Gallen um die Jahrhundertwende sind mehrere frühe Aufnahmen von Velofahrern erhalten. Sie stellen allerdings noch die Ausnahme dar. Bald jedoch wird das Fahrrad enorm populär, gerade auch als Fortbewegungsmittel für ärmere Leute. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts sind sie dann bereits so verbreitet, dass Aufnahmen von der Olma mit eigenen Veloparkplätzen existieren.

Der Veloparkplatz vor der Olma Bild: Stadtarchiv SG

Befördert wurde diese Euphorie durch einen Umstand, der bis heute gilt: Durch die Heirat von Medien und Industrie wurde die Entwicklung und Vermarktung gefördert. Schon früh entdecken Industrielle die Marktchancen für die Herstellung dieser Geräte und Sponsoren sorgten für die Durchführung von Strassenrennen. Auf diese Weise sollte das Fahrrad Bekanntheit erlangen und die Zielgruppe erweitert werden.

Mindestens ebenso an diesem Boom interessiert waren die Zeitungen, die eifrig über das Fahrgerät und die Rennen berichteten. Sie witterten die Faszination, die von diesen Rennen ausging und erhofften sich neue Leser. Darüber hinaus wurde eine Vielzahl Zeitschriften gegründet, die sich eigens dem Thema Fahrrad widmeten. Im Jahr 1868/69 gab es in Frankreich bereits zwei Illustrierten mit dem Namen «Le Vélocipède», im April 1869 erschien die erste Ausgabe von «Vélocipède Illustré».

Sowohl die Hersteller wie die Redakteure waren am Spektakulären interessiert. So förderten sie den ersten eigentlichen Superstar im Radsport. Der Brite James Moore hatte bereits das erste Strassenrennen in Paris gewonnen und dominierte in den Folgejahren die in verschiedenen französischen Städten veranstalteten Radrennen. Im Jahr 1873 erzielte er den bis dahin neuen Stundenweltrekord von 14,5 Meilen (oder 23,3 Kilometer) im englischen Wolverhampton. In seinem Heimatort Bury St Edmund wurde im März 2019 ein Denkmal zu seiner Erinnerung enthüllt.

Neben den sportlichen Helden standen die Abenteurer.

Ein Beispiel: Im April 1884 startete der 29-jährige Amerikaner Thomas Stevens (1854–1935) eine Hochrad-Velotour rund um den Globus. Seine Reise begann in San Francisco und führte ihn über Boston und New York quer durch Europa bis nach Asien. Im japanischen Yokohama erklärte er sein Vorhaben für erfolgreich abgeschlossen.

Seine Anstrengung machte Furore und er berichtete in regelmässigen Zeitungsserien über seine Erlebnisse. Wie ein Held in den Abenteuerbüchern Karl Mays schildert er Begegnungen mit Bären, Pumas und Schlangen, beschreibt sein Zusammentreffen mit einer Räuberbande in Kurdistan, erzählt von einem Angriff in Persien und von seiner knappen Genesung einer tödlichen Krankheit, mit der er sich in China infiziert hatte.

Diese Episoden schildern nicht nur die Abenteuerlust Stevens, sondern verweisen nochmals auf die enge Verzahnung zwischen Sport, Medien und Industrie. Stevens verkaufte nicht nur seine Berichte an die Zeitschrift «Outing», um seine nächsten Reisen zu finanzieren, sondern er wurde auch vom Verleger der Zeitschrift als Korrespondent angestellt. Der Verleger war indes seinerseits tief im Geschäft der aufkommenden amerikanischen Fahrradindustrie involviert.(1)

(1) Schröder, Ralf, Radsport, S. 13.; heute übrigens wieder extrem populär unter dem Label «Gravel-Trend».

Lesen Sie morgen im dritten Teil: Das Fahrrad als Teufelsmaschine – von Skeptikern, Kritikern und Satirikern.

Oliver Ittensohn