Nicht von allen wurde die Popularität des Fahrrads gern gesehen. Die Kritik kam aus verschiedenen Richtungen. Ein Stein des Anstosses war die Sicherheit im öffentlichen Verkehr. Da die ersten Fahrräder noch über gar keine oder keine ausgefeilten Bremsen verfügten, galten sie als Gefahr für Fussgänger und Pferdewagen.
Darüber hinaus sahen gerade Reiter und Fuhrleute in den Velofahrern einen Konkurrenten zu ihren eigenen Gefährten und duldeten sie ungern auf den von ihnen beherrschten städtischen Strassen.
Bereits um die Jahrhundertwende etablierten sich beispielsweise in der Stadt St.Gallen die sogenannten «Roten Radler», ein Velokurierdienst.
Das st.gallische Adressbuch von 1930 listet das bunte Potpourri an Dienstleistungen auf, welche diese Radler anboten. Sie transportierten Gerätschaften bis 100 Kilogramm, mit Preiszuschlag auch Zustellungen nach 20 Uhr. Am Bahnhof konnten sie zudem als Gepäckträger engagiert werden. Ausserdem übernahmen sie Reinigungsaufträge aller Art. Ihr Büro befand sich in diesen Jahren an der Gartenstrasse beim Bleicheli.
Durch ihr neues Geschäftsmodell und ihre neuen Gefährte riefen sie auch schnell Satiriker auf den Plan. In der Satirezeitschrift Nebelspalter vom 24. Mai 1913 las man so folgendes Gedicht (Auszug):
«Der rote Radler von St.Gallen
Rote Radler sind beliebt,
Da es viele Dinge gibt,
Die ein roter Radler kann,
Sag’ ich gleich noch wo und wann.
Rote Radler sind von Nutzen:
Rote Radler können putzen,
Kleider klopfen, Brieflein bringen,
Kinder in den Schlaf auch singen,
Junge Damen gar bewachen,
Und so gibt’s noch viele Sachen…»(1)
Kritik anderer Art betraf das traditionelle Rollenmodell der bürgerlichen Gesellschaft.
Der Mann als arbeitstätiger Ernährer der Familie bildete zusammen mit der Ehefrau, die ihre Aufgaben als Hausfrau und Mutter zu erfüllen hatte, eine Einheit. Gerade vermögendere Frauen entdeckten jedoch das Fahrrad für sich und sahen darin eine Betätigung, die Freiheit und Erfüllung versprach. Die Satirezeitschrift Simplicissimus publizierte 1898 eine Karikatur, welche die Frau auf dem Fahrrad zeigt, die ihrem Ehemann die häusliche Arbeit und die Aufsicht über die Kinder überträgt, um selbst weiter Velofahren zu üben. Die Bildunterschrift lautet: «So, Manderl, jetzt geh schön heim mit den Kindern. Ich trainier noch eine Stunde.»
In ähnlicher Richtung hagelte es bald Kritik, dass die Unterschichten zunehmend das Fahrrad für sich vereinnahmten. Es sollte, so der Vorwurf, als Statussymbol dem reichen Velofahrer der Oberschicht vorbehalten bleiben. Dies hatte einen brisanten, sozialpolitischen Hintergrund.
Es stellte sich nämlich heraus, dass Handwerker und Arbeiter, an körperliche Arbeit gewohnt, den Herrenradfahrern in puncto Kraft und Ausdauer weit überlegen waren. Besonders nach 1900 waren es mehrheitlich Leute aus dem Volk, die Rekorde im Fahrradfahren aufstellten und die Velorennen gewannen, und somit auch den Zuspruch und die Fangemeinde für sich einnahmen. Die bürgerliche Oberschicht ging leer aus.