Am Ende des 19. Jahrhunderts war das Fahrrad auch in der Schweiz populär. 41 Vertreter aus den zahlreichen Velovereinen trafen sich am 30. September 1883 im Hotel Du Pont in Biel-Brügg, um den «Schweizerischen Velocipedisten Bund» zu gründen. Später wurde der Bund in «Schweizerischer Rad- und Motorfahrer-Bund» umbenannt (1909), hatte seinen Sitz in Zürich und zwölf Angestellte.
Wichtiger noch war die Begehung des 50-Jahre-Jubliäums des Bundes im Jahr 1933. Man wollte etwas Grosses inszenieren, und einigte sich auf die «I. Schweizerische Rundfahrt», den Startschuss zur Tour de Suisse. 1’200 Kilometer sollten in fünf Etappen zurückgelegt werden. Das Rennen führte von Zürich über St.Gallen nach Davos, Luzern, Genf, Basel und zurück nach Zürich, das Tessin wurde ausgelassen. Alles musste neu erstellt und geschrieben werden: Reglemente, Routen, Werbung.
Dazu kamen ständige Geldsorgen.
Allein das Preisgeld von 10'000 Fr. für den Sieger erwies sich zu Beginn als schwer aufzutreiben. Aber auch logistische Probleme häuften sich: Man benötigte Unterkünfte und Garagen für die Teilnehmenden, Reparaturwerkstätten, Pressebüros und die Strecke musste säuberlich markiert und abgesperrt werden.
Auch die Fahrer wurden vor grosse Herausforderungen gestellt, vor allem die Gebirgsstrecken waren gefährlich und anstrengend. Die zweite Etappe von Davos über die Lenzerheide und den Oberalppass nach Luzern verlangte den Fahrern alles ab. Viele gaben entkräftet auf, einer wurde gar von einem Begleitauto angefahren.
In der Rückschau sollte sich der Aufwand lohnen.
Die erste Tour de Suisse galt als überwältigender Erfolg. Man schätzte, dass ungefähr eine halbe Million Zuschauer das Rennen verfolgt hatten, sie standen am Strassenrand, feuerten die Fahrer an und genossen das Spektakel. Für St.Gallen überliefert die Jahresmappe aus dem Jahr 1933 eine Schilderung des Rennens:
«Das Jahr 1933 brachte den schweizerischen Radsport eine ungeahnt steile Aufwärtsentwicklung, die sich denn auch äusserlich in der Gunst des Publikums kundtat während der «Tour de Suisse». Auf dieser auch unsere Stadt berührende Rundfahrt kam die Popularität des Radsports in der ungeteilten Anteilnahme der Bevölkerung recht augenfällig zum Ausdruck.
Trotz eines Werkvormittags waren tausende und tausende spalierbildender Zuschauer auf den Strassen, um die ‘Giganten der Landstrasse’ vorbeisausen zu sehen. Und während der laufenden Woche bildete «die Tour» fast den ausschliesslichen Gesprächsstoff auch von Leuten, die sonst von Sport und Radsport im Besondern nicht viel wissen wollen. Das sportliche Grossereignis hatte sie aber alle mit unwiderstehlicher Macht in seinen Bann gezogen.»(1)
In der Folge wurde jährlich ein Rennen abgehalten, bis im Jahr 1940 der 2. Weltkrieg durch die Grenzbesetzung eine Durchführung verhinderte. 1941 fand wiederum eine kleine Tour de Suisse statt, sie führte über drei Etappen von Zürich nach Lausanne und über Bern zurück nach Zürich. Auch 1942 gab man nicht auf: Obwohl das Reifenmaterial knapp war und Benzin für die Begleitfahrzeuge fast vollständig fehlte, wurde das Rennen ausgetragen. Die Zeitschrift «Nebelspalter» spöttelte, dass private Velofahrer auf ihre Velopneus verzichten mussten, um sie den Rennfahrern zu überlassen.(2)
Die Jahre 1946 bis 1958 gelten als die goldenen Jahre der Tour de Suisse, und im Jahr 1946 endete eine der Etappen erstmals in der Stadt St.Gallen.
Die Gesamtdistanz betrug knapp 1’845 Kilometer, von den 60 gestarteten Fahrern erreichten 32 das Ziel. Die Siegertrophäe ging an den Italiener Gino Bartali, der in der Folge eine glänzende Karriere absolvieren und einer der erfolgreichsten und populärsten Radrennfahrer werden sollte. Für sein Engagement während des 2. Weltkriegs zur Rettung verfolgter Juden wurde er 2013 posthum mit der Ehrung des Staats Israels als einer der «Gerechten unter den Völkern» ausgezeichnet.
Das zweite Mal wurde die Stadt St.Gallen ein Etappenort in der Tour de Suisse des Jahres 1963. Gleich die erste Etappe führte von Zürich nach St.Gallen, am nächsten Tag von St.Gallen nach Celerina. Auf letzterer Strecke gerieten die Fahrer in ein grosses Unwetter mit Schnee und Eis, durchgefroren und am Ende ihrer Kräfte erreichten Sie am Abend Celerina. Zum Sieger wurde der Italiener Giuseppe Fezzardi gekürt.
Danach war St.Gallen für einige Jahre nicht mehr Teil der Tour de Suisse. Das Jahrbuch der Stadt St.Gallen vom Jahr 1975 schrieb dazu lapidar: «Der übrige Radsport (neben dem Radball, A.d.V.) hat in St.Gallen jegliche Bedeutung verloren. Sogar die traditionellen Rundfahrten (z. B. Tour de Suisse) machen einen weiten Bogen um unsere Stadt.»(3)
Doch es ging wieder aufwärts. Die Jahre 1980 bis 2007 sind die Touren der grossen Namen bis heute: Lance Armstrong, Jan Ullrich, Beat Breu und Alex Zülle. St.Gallen war zweimal Etappenziel, einmal 1982 als Schluss der dritten Etappe und einmal 1991 als Startpunkt der ersten Etappe.
(1) SG Jahresmappe 1934, S.74.
(2) Nebelspalter, S.23.
(3) Gallusstadt, 1975, S.144.