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Kultur
03.09.2024

Hybride Polarisierung

Stadtpräsident Peter Neukomm tritt in Sägeaktion, während Frank Riklin und Stadträtin Christine Thommen die Sitzbank halten. Ganz links beobachtet Patrik Riklin und rechts Stadträtin Karin Bernath das Geschehen.
Stadtpräsident Peter Neukomm tritt in Sägeaktion, während Frank Riklin und Stadträtin Christine Thommen die Sitzbank halten. Ganz links beobachtet Patrik Riklin und rechts Stadträtin Karin Bernath das Geschehen. Bild: Ronny Bien
Es war wohl eines der bestgehüteten Geheimnisse des Schaffhauser Stadtrats: Das soziale Kunstprojekt, welches durch die Gebrüder Frank und Patrik Riklin konzipiert wurde und 100000 Franken kostet. Ein schmaler Grat zwischen Begeisterung und Empörung, wie die Reaktionen zeigen. Aber: Das Ziel wurde erreicht.

«Hybride Stadtbank». So nennt sich das Kunstprojekt, welches die fünf Stadträtinnen und Stadträte und ein paar wenige Dritte zum regionalen Staatsgeheimnis erkoren. Schon weit im Vorfeld, als der Grosse Stadtrat Ende letztes Jahr bei der Budgetdebatte über die beantragten 75 000 Franken diskutierte, rollte es insbesondere den Bürgerlichen die Zehennägel nach hinten. Man wolle einmal mehr die Katze im Sack kaufen, schimpfte Nicole Herren (FDP), auch Thomas Stamm (SVP) war gegenüber diesem «Kindergeburtstag» sehr skeptisch gestimmt. Nicht einmal die Geschäftsprüfungskommission war ins Geheimnis eingeweiht, die daraufhin die Streichung dieses Budgetpostens beantragte. Stadträtin Christine Thommen benötigte viel Überzeugungsarbeit, um den Grossen Stadtrat wohlwollend zu stimmen. Man wusste nur, dass dieses Kunstprojekt neue Dimensionen und Sichtweisen darbiete und diese temporäre Intervention während rund anderthalb Jahren unübliche Begegnungen und den «Dialog aller Akteure» fördere. Mit haarscharfen 16:15 Ja-Stimmen wurde schliesslich das 100 000 Franken-Projekt angenommen. 75000 Franken steuert die Stadt bei, was das steuerzahlende Stadtvolk ungefähr zwei Franken pro Person kostet. Die Windler-Stiftung trägt zudem 25 000 Franken bei.

Teil der Aufwertung

Thomas Stamm versuchte vergeblich mit einem Postulat das Projekt zu stoppen. Kern des Anstosses war auch das Honorar von 90 000 Franken, welches die beiden Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin erhalten sollen, wovon 22 500 Franken durch die Windler-Stiftung finanziert werden. Danach blieb es ruhig, ehe vorletzte Woche auf dem Walther-Bringolf-Platz schwefelgelbe Sitzbänkli installiert wurden und die Stadt über die «temporäre Aufwertung» an dieser Stelle informierte und zugleich bekannt gab, dass für die Neugestaltung des Platzes das Siegerprojekt «Kyklos» vom Architekturbüro Studio Bellesi Giuntoli aus Florenz den Vorzug erhalten hat. Im September wird das Projekt ausgestellt und genauer vorgestellt. Doch eines ist gewiss: Die Sitzbänkli sind Teil der Aufwertung des 2027 fertig gestellten Miniparks, deren Geheimnis rund um das ominös scheinende Kunstprojekt schliesslich am vergangenen Mittwoch gelüftet wurde.

Anonyme Drohungen

An diesem besagten Mittwoch versammelte sich eine illustre Schar auf dem Walther-Bringolf-Platz, welches gespannt auf die Auflösung plangte. Punkt 10 Uhr zogen Christine Thommen und Daniel Preisig (SVP) einen Leiterwagen mit den Riklin-Zwillingen darauf, auf den Platz, umkreist vom restlichen Stadtrat. Auch die Stadtpolizei war aus Sicherheitsgründen zugegen, da die beiden Künstler im Vorfeld anonyme Drohungen erhielten. «In dieser Heftigkeit haben wir das so noch nie erlebt», entgegnen die beiden, die sich eigentlich gewohnt sind, dass Kunst Aufregung verursacht und polarisiert. Negative Reaktionen und blankes Entsetzen erfolgten vor allem in den sozialen Medien. «Wir können den Kritikpunkt betreffend des Honorars nachvollziehen. Doch es relativiert sich, denn der Betrag erscheint nicht mehr sehr hoch, wenn man die Leistungen, die dahinterstecken, miteinbezieht», sagt Frank Riklin. Wenn man diese Einmalzahlung auf einen Monatslohn für den Zeitraum der geplanten 18 Monaten herunterbricht, entspricht das ungefähr 2500 Franken, welches die beiden Kunstschaffenden monatlich erhalten. Die Drohungen wurden mittlerweile zur Anzeige gebracht.

 

Die Zwillingsbrüder und Konzeptkünstler Patrik (l.) und Frank Riklin. Bild: Ronny Bien

Kommunikationsförderung

Der Überraschungseffekt ist den «Regisseuren» Christine Thommen und Daniel Preisig gelungen. Stadtpräsident Peter Neukomm hielt seine Ansprache aus dem Erker, wo einst auch schon Walther Bringolf parlierte, danach zogen alle Stadträt:innen nacheinander Schutzkleider an und zersägten mit einer Motorsäge je eine Sitzbank. «Was soll denn das?» – «Ist das ein Witz?» Fragende Blicke unter den Zuschauenden, ehe Frank und Patrik Riklin danach aufklärten. Diese «hybride Stadtbank»-Aktion dient dazu, um um unübliche Begenungen zu ermöglichen und den Austausch und die Offenheit zwischen den Menschen zu fördern. Private erwerben kostenlos eine Bankhälfte und platzieren diese in ihren privaten Räumlichkeiten, die in bestimmten Zeitfenster öffentlich zugänglich sind. Die andere Hälfte bleibt vor Ort und wird mit einem Etikett und den nötigen Infos versehen, um die hybriden Halbbänkli zu besuchen. «Bis zum Wochenende haben sich insgesamt sechs Personen über die Halbbank-Hotline gemeldet, die eine Hälfte bei sich aufstellen möchten», bestätigt Frank Riklin den positiven Effekt. «Wir erhielten auch sehr viel Lob für diese mutige Performance.» Übrigens stehen insgesamt fünf hybride Halbbänke zum Bestellen in den privaten Innenraum zur Verfügung. Später kehren die Bankhälften wieder zurück auf den Platz, werden wieder zusammengefügt und als Stadtmobiliar eingesetzt. Eine Narbe erinnert später an diese Aktion.

«Aktion tut gut»

Was diese Bänkli ebenfalls in Erinnerung rufen, ist die abgelehnte Kleine Anfrage des parteilosen Urs Tanner, der im Frühling 2023 Plauderbänkli in der Stadt forderte. Gerade einsame Menschen würden diese begrüssen und ihren Teil dazu beitragen, um die Kommunikation zu fördern, lautete sein Vorstoss. Christine Thommen erklärt, dass mit den ausgewilderten Bänkli in erster Linie die Offenheit der Stadtbevölkerung für unübliche Begegnungen gefördert werden soll. «Wenn wir eine offene Stadtgesellschaft sind, hat dies auch auf das Thema Einsamkeit einen positiven Effekt, so Thommen. Und obendrauf wird bei der hybriden Stadtbank die Bevölkerung selber zur ‹Stadtentwicklerin››, indem sie den öffentlichen Raum in privaten Innenräumen erweitert. Dem pflichtet Urs Tanner bei: «So eine ‹wilde› Aktion tut dem bieder-sympathischen Schaffhausen gut. Und wenn ich mit der Stadt Wuppertal vergleiche, das für 12 ‹Goldbänke› 400 000 Euro zahlte, ist es für uns sogar ein Schnäppchen», schmunzelt der Grossstadtrat.

Blankes Entsetzen

Die Reaktionen nach der Enthüllung waren teils heftig, vor allem in den sozialen Medien. Nicole Herren und Severin Brüngger (FDP), ebenfalls vor Ort, standen die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. «Was denkt wohl zum Beispiel das Gewerbe, dass wegen der Stadtgeviertbaustelle massive Einbussen hatte und von der Stadt nicht unterstützt wurde, über den Stadtrat», fragt sich Brüngger. Auch das Vermissen des Schaffhauser Gelbs wurde bemängelt. Die Projektverantwortlichen entschieden sich für schwefelgelb, um den maximalen Wiedererkennungseffekt zu erzielen. Grossstadtratspräsident Stephan Schlatter findet die ganze Aktion «zum Kotzen», wie er auf Facebook mitteilt und teilt das blanke Entsetzen mit vielen Gleichgesinnten in den sozialen Medien. Die Künstler antworten den Kritiken jeweils mit ungefähr folgenden Worten: «Wer nur halb liest oder denkt, hat es schwer, das Ganze zu erkennen.» Interessant: Nachdem das Projekt formell legitimiert ist, prüft sogar Thomas Stamm, ob er am Projekt partizipieren soll. Das wiederum erfreut Christine Thommen, die allerdings von Kritik ebenfalls nicht verschont blieb. «Wir verstehen die Reaktionen als andere Sichtweise, die wir akzeptieren.» Zur Lancierung einer Petition der Jungen SVP, dass der Stadtrat die 100 000 Franken aus eigener Tasche bezahlen soll, werde dieser erst Stellung nehmen, wenn die Petition tatsächlich eingereicht worden sei.

Mission erfüllt

Wie diese ganze Aktion generell zu werten ist, muss die Schaffhauser Bevölkerung für sich selbst herausfinden. Im Grundsatz ist der Sinn dahinter positiv zu betrachten, weil eine weitere Möglichkeit geschaffen wird, Menschen zusammenzuführen. Ein Schritt heraus aus der digitalen Vernetzung mitten in den analogen Austausch. Natürlich war die Zersäge-Aktion reine Effekthascherei, um die Aufmerksamkeit zu erregen. Und das haben die Riklins mit ihrem «Komplizen-Stadtrat» geschickt eingefädelt. Ohne Geheimniskrämerei hätte das Projekt niemals dieselbe Wirkung erzeugt. Die ganze Stadt diskutiert darüber und will derzeit alles halbieren. Und zwischen all dem Spott melden sich dennoch Leute, die tatsächlich Interesse bekunden. «Es sind nun auch Plakate ausgehängt, um noch breiter auf die Idee aufmerksam zu machen. Bald werden wir auch von ersten Erfahrungen berichten können», sagt Christine Thommen, die zudem ankündigt, dass der Stadtrat die ausgewilderten Bänkli besuchen werde. Die Präsentation mit dem Stadtrat auf dem Walther-Bringolf-Platz war der Hammer», blicken die Riklin-Twins zurück. «Und wenn die Kunst, die unserer Meinung nach nicht funktionieren, sondern wirken muss, trotzdem funktioniert, werden wir das Kunstprojekt ‹Hybride Stadtbank› auch in andere Schweizer Städte ausweiten.» Derweil kann der Stadtrat von sich aus sagen: «Mission erfüllt».

Bänkli des Anstosses: Darüber diskutiert derzeit Schaffhausen. Bild: Ronny Bien
Ronny Bien, Schaffhausen24