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St. Gallen
06.09.2024

Die aussergewöhnliche Geschichte einer spätmittelalterlichen Frau

Nicht alle Missiven haben die Jahrhunderte unbeschadet überstanden. Die Textlücken werden in der Edition nach Möglichkeit anhand des Kontextes ergänzt
Nicht alle Missiven haben die Jahrhunderte unbeschadet überstanden. Die Textlücken werden in der Edition nach Möglichkeit anhand des Kontextes ergänzt Bild: StadtASG, Missive 225
Das Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde hat den Briefverkehr («Missiven») der Stadt St.Gallen von 1400 bis 1650 digital erfasst. Als «Missive des Monats» stellen wir Ihnen jeden ersten Freitag im Monat ein besonders interessantes Schriftstück vor. Heute: Kunigunde von Altstätten und das Appenzeller Landrecht im 15. Jahrhundert.

Am 18. Mai 1450 erhielt die Stadt St.Gallen eine ungewöhnliche Nachricht von den Appenzellern: Kunigunde von Altstätten, eine Frau aus dem Geschlecht der Edlen von Altstätten, war als Landmännin in das Appenzeller Landrecht aufgenommen worden. Diese knappe Mitteilung markiert einen Moment in der Geschichte, der uns einen seltenen Einblick in das Leben einer Frau im 15. Jahrhundert bietet.

Kunigunde wurde in eine Familie hineingeboren, die über Generationen hinweg das Meieramt innehatte.

Meier waren Verwalter von Gütern und Rechten, die einer Herrschaft gehörten und damit in den niederen Adel aufgestiegen waren. Als Edelgeschlecht erlangten sie bereits im 13. Jahrhundert die niedere Gerichtsbarkeit und verwalteten die Güter des Klosters St.Gallen in seinem Territorium. Sie hatten eine bedeutende Rolle, die nicht nur wirtschaftliche Macht, sondern auch sozialen Einfluss mit sich brachte. 

Kunigundes Vater, Rudolf IV. von Altstätten, wurde 1430 mitsamt seinen Burgen Neu-Altstätten und Neuburg, die zum Pfand der Herrschaft Pfannenstein im Vorarlberg gehörten, in das Burgrecht der Stadt St.Gallen aufgenommen. Modern gesehen könnte man von einen Art Einbürgerung sprechen. Dieses Burgrecht stellte sicher, dass die Familie unter dem Schutz der Stadt St.Gallen stand, was gerade in unruhigen Zeiten von grosser Bedeutung war.

Trotz dieses Schutzes waren Kunigunde und ihre Mutter während des Alten Zürichkriegs (1439–1446) im Rheintal nicht vor Übergriffen sicher.

Die Truppen, die in das Gebiet einmarschierten, brachten Gefahren für die Bewohner mit sich, und Kunigunde und ihre Mutter erfuhren nicht den erhofften Schutz der Stadt St.Gallen. Diese Enttäuschung führte dazu, dass Kunigunde sich an die Appenzeller wandte und bei ihnen Schutz suchte.

Ihr Wunsch führte schliesslich dazu, dass sie und ihre Leute den Appenzellern Treue schworen. Dies wird in einer Missive aus dem Jahr 1445 (Nr. 195) bestätigt.

Postkarte mit Gerberstrasse und Gasthaus Frauenhof, 1932. Der Name «Frauenhof» geht auf die Erbauerin des Gebäudes, die edle Frau Kunigunde von Altstätten zurück. Sie lebte bis zu ihrem Tod 1476 in diesem Haus, danach ging es in den Besitz des Kloster St.Gallen über Bild: StadtASG PA Foto Gross, PKK3451

Die Aufnahme Kunigundes ins Appenzeller Landrecht im Jahr 1450 war ein aussergewöhnlicher Schritt, besonders wenn man bedenkt, dass Frauen zu dieser Zeit nur selten solche Rechte erhielten.

Das Landrecht stellte eine bindende Verpflichtung dar und war mit erheblichen Kosten verbunden. Es wurde nicht jedem gewährt, sondern war ein Privileg, das demjenigen verliehen wurde, der sich zur Verteidigung und zum Wohl der Gemeinschaft verpflichtete. 

Die Tatsache, dass Kunigunde, eine Frau, in diese Gemeinschaft aufgenommen wurde, spricht Bände über ihren Status, ihre Ressourcen und ihre Fähigkeiten.

Kunigunde vermählte sich 1436 mit Hans Tumb dem Jüngeren von Neuburg, und nach dem Tod ihres Vaters fielen das Meieramt und alle Pfandschaften der Familie von Altstätten an das Ehepaar. Mit ihrem Ehemann führte Kunigunde das Meieramt weiter.

Das Meieramt war von zentraler Bedeutung für die Existenz des Meierhofs. Dieses Amt wurde üblicherweise einem bevorzugten Erben zugesprochen, oft dem ältesten Sohn. In Fällen, in denen keine Söhne vorhanden waren, konnte auch eine Tochter das Amt übernehmen. Dieses Anerbenrecht sicherte, dass der Hof nicht zersplittert, sondern in seiner Ganzheit an einen Erben allein weitergegeben wurde.

Kunigunde nutzte dieses Recht und übernahm das Amt, was ihr nicht nur wirtschaftliche Macht, sondern auch sozialen Einfluss verlieh.

Wie exklusiv eine Burgrechtsverleihung war, wird aus Folgendem ersichtlich: Im älteren Appenzeller Landbuch ist festgehalten, dass ursprünglich pro Jahr nur ein Mann ins Landrecht aufgenommen werden durfte.

Diese Regelung wurde jedoch nicht immer strikt eingehalten, und im Laufe der Zeit stiegen die Gebühren für die Aufnahme ins Landrecht erheblich. So betrug die Gebühr 1537 noch 15 Gulden, wurde aber bis 1557 auf 50 Gulden erhöht.

Zwei Landbücher entstanden vor der Landteilung 1597 und betrafen das ganze Land Appenzell. Das erste, das sogenannte «Ältere Landbuch», wurde vermutlich um 1540 verfasst und soll auf ein verschollenes Buch von 1409 zurückgehen Bild: Landesarchiv Appenzell Innerrhoden, LAAI, C.XI.01, Ansicht offen – Älteres Landbuch, https://www.e-codices.ch/de/list/one/laai/C-11-0001

Kunigunde von Altstätten war eine der wenigen Frauen des Spätmittelalters, deren Leben aufgrund ihrer Ämter und Rechte so gut dokumentiert ist.

Ihre Geschichte illustriert, wie Status, Erbe und persönliche Fähigkeiten es einer Frau ermöglichten, sich in einer patriarchalischen Gesellschaft zu behaupten. 

Das Appenzeller Landrecht, in das sie aufgenommen wurde, war eine der Institutionen, die es ihr erlaubten, ihren rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einfluss zu sichern.

Die erwähnte Missive Nr. 225 ist abrufbar unter: https://missiven.stadtarchiv.ch/data/stasg_missiv_00225.xml

Literatur

Bütler, Placid: Die Edeln und Meier von Altstätten, in Anzeiger für schweizerische Geschichte und Altertumskunde 17, 1919, S.112–127. [Artikel als PDF](https://doi.org/10.5169/seals-64289)

Alina Mächler