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St. Gallen
04.10.2024

Kriegskinder vom Sommer 1945

Im Sommer 1945 lernen Jungen aus Frankreich die Schweiz und die Philosophie der Pfadfinder in St.Peterzell kennen.
Im Sommer 1945 lernen Jungen aus Frankreich die Schweiz und die Philosophie der Pfadfinder in St.Peterzell kennen. Bild: Stadtarchiv St.Gallen
Im Sommer 1945 kommen 45 kriegsgeschädigte Jungen aus Frankreich nach St.Gallen, um in der Schweiz drei Monate Erholung von den Schrecken des Krieges zu finden.

Pflegefamilien und Pfadfinder bereiten ihnen eine Zuflucht, die neben Fürsorge auch zahlreiche Herausforderungen mit sich bringt.

Sie sind müde und ausgehungert. Ihre Kleider hängen wie Lumpen an ihren dünnen Körpern. Ihre Blicke sind starr. Wir sind im Sommer 1945, der Zweite Weltkrieg hat das alte Europa zerstört. In Genf besteigen 45 Franzosenjungen einen Zug Richtung St.Gallen. Für drei Monate sollen sie sich von Krieg, Leid und Zerstörung erholen.

Schwierige Finanzierung

Die Initiative, kriegsgeschädigte Kinder während und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz für eine bestimmte Zeit zu Erholungszwecken aufzunehmen, geht vom Bundeskommissariat für soziale Aufgaben in Bern aus.

Die strategische Umsetzung übernehmen der Schweizerische Pfadfinderbund und die Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes. Die operative Leitung vor Ort haben die Kantone und Gemeinden.

In St.Gallen trägt die Zusammenarbeit Früchte. Die Finanzierung des Vorhabens gestaltet sich zwar schwierig, aber sie gelingt. Ein Teil wird von Taggeldern des Roten Kreuzes gedeckt, der Rest kann durch finanzielle und materielle Spenden von Vereinen und Privaten in Kanton und Gemeinden sowie Einzelinitiativen wie das Verkaufen von Postkarten gedeckt werden.

Organisiert und durchgeführt vom Pfadfinderverein

Die Organisation und Durchführung in der Stadt St.Gallen liegt in den Händen der Pfadfindervereine, in unserem Falle der Pfadfinderabteilung Hospiz.

Nach einem kurzen Zwischenstopp in Zürich kommen die Knaben am Bahnhof St.Gallen an und werden von singenden Pfadfindern empfangen. Nach einer Begrüssungszeremonie gehen alle gemeinsam in einen Garten an der Notkerstrasse.

Dort werden sie von ihren Pflegefamilien abgeholt. Insgesamt werden sie drei bis sechs Wochen bei ihnen leben.

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Mammutaufgabe

Der Pfadi Hospiz ist bewusst: Der Aufruf, bereitwillige Pflegefamilien für den mehrmonatigen Aufenthalt der Kinder zu finden, ist eine Mammutaufgabe. Mit Briefen und Zirkularen werden erst sämtliche Pfadfinderkontakte abgegrast, von aktiven zu ehemaligen Pfadern.

Auch der Verwandten- und Freundeskreis wird angefragt. In mehreren Wellen werden die Anfragen verschickt. Schliesslich bringt man die nötige Anzahl Bereitwilliger zusammen.

Das Werbeschreiben für die Aktion gibt sich Mühe, Bedenken zu zerstreuen. So werden die Kinder tagsüber von den Pfadfindern betreut, Nahrungsmittelmarken werden mitgegeben. 

Die Entscheidung fällt dennoch nicht leicht. Erst vor kurzem ist der Zweite Weltkrieg offiziell zu Ende gegangen. Es herrscht Not und Mangel, auch in der Schweiz. Für die eigene Familie zu sorgen braucht viel Kraft, und dazu noch ein fremdes Kind aufnehmen? Und dann noch ein fremdes Kind mit einem so schwierigen und unbekannten Hintergrund?

Schwieriger Anfang

Auch den Kindern fällt der Anfang schwer. Ein neues Zuhause, neue Menschen, eine neue Sprache. Von den Wirren des Kriegs in eine geschützte Umgebung zu entfliehen, klingt zwar verlockend, ist aber auch grosser psychischer Stress. Die Kinder sind alle 11 bis 14 Jahre alt. Und kaum haben sie sich bei ihrer neuen Familie eingelebt, heisst es Abschied nehmen. Es geht für sechs Wochen ins Pfadilager nach St.Peterzell.

Menschlichkeit und Solidarität

Das Pfadilager wird von Beginn an als zentraler Bestandteil der Aktion gesehen. Hier sollen die kriegsgeschädigten Kinder Werte wie Menschlichkeit und Solidarität wieder entdecken.

Das Lagerprogramm nimmt auf die Verfassung der Knaben Rücksicht. Sie sind körperlich noch schwach, es werden Aktivitäten wie Spazieren, Baden oder Feuermachen geübt.

Auch andere Fähigkeiten wie Körperhygiene oder Zubereiten eigener Verpflegung steht auf dem Programm. Die Pfadfinder nennen dies «Körperschule».

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Erinnerungen an Hitlerjugend

Die Jungen sind verstört und verunsichert, das Lager gefällt ihnen zu Beginn nicht. Sie wollen zurück zu ihren Pflegeeltern. Das Befolgen der Aufgaben und das gemeinsame Marschieren erinnert sie an die Hitlerjugend, sie reagieren ablehnend.

Viele werden gewalttätig, wehren sich, schlagen um sich oder sich gegenseitig. 

Die Buben haben Angst, man wolle ihre Habseligkeiten stehlen. 

Für die Lagerleiter eine grosse Herausforderung, die sie an ihre Grenzen bringt. Sie bleiben dran. Nach ein paar Wochen bessert sich die Lage, man gewöhnt sich aneinander. Ab der vierten Lagerwoche – so steht es in den Berichten der Pfadi Hospiz – steht die Pfaderprüfung an.

Sie motiviert die Knaben. Alle machen mit und wollen sich auszeichnen. Zweien wird ein Pfadfinderorden für besondere Leistungen verliehen. Dann geht es zurück in die Pflegefamilien für weitere drei Wochen.

Retour nach Frankreich

Nach drei Monaten Aufenthalt in der Schweiz kehren sie nach Frankreich zurück. Die Jungen besteigen den Zug, man winkt sich zu.

Nach ein paar Wochen kommen die ersten Briefe aus der Ferne. Die Kinder bedanken sich – und hoffen auf ein Wiedersehen.

Oliver Ittensohn/Linth24/Toggenburg24