Die in Thayngen aufgewachsene Dr. iur. und lic. phil I Marianne Wüthrich besuchte die Kanti Schaffhausen und studierte an der Uni Zürich. Auch noch heute mit 77 Jahren setzt sie sich aktiv für eine neutrale Schweiz ein.
Dr. rer. publ. Werner Wüthrich, 74 Jahre alt, wuchs in Weinfelden auf und studierte an der HSG. Zusammen mit seiner Frau verfasste er die Dokumentation «Neutralität als Chance für die Schweiz und für die Welt». Beide gaben als Berufsschullehrer:in ihr Wissen weiter. Seit der Pensionierung leben sie in Wil SG.
«Bock»: Weshalb setzen Sie sich für die integrale Neutralität der Schweiz ein?
Marianne und Werner Wüthrich: Es gehört zum Schweizer-Sein, dass man sich für die Neutralität einsetzt, die integrale Neutralität ist der Kern des Schweizer Modells. Wir sind ja auch in guter Gesellschaft: Seit Jahrzehnten spricht sich die Schweizer Bevölkerung in allen Umfragen mit 90 bis 95 Prozent für die Erhaltung der Neutralität aus, auch 2022/23 sind es immer noch fast 90 Prozent.
Sie und Ihr Mann haben das Dokument «Neutralität als Chance – für die Schweiz und für die Welt» veröffentlicht. Wie kam es dazu? Was wollen Sie damit bewirken?
Marianne Wüthrich: Ich bin Mitglied des Komitees der Eidgenössischen Volksinitiative zur «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)». Das Komitee wurde im Sommer 2022 gegründet, ich stiess anfangs September dazu. Die Broschüre «Neutralität als Chance – für die Schweiz und für die Welt» haben mein Mann und ich vor einem Jahr geschrieben, um die Schweizerinnen und Schweizer an die historischen Grundlagen und den Sinn der Schweizer Neutralität zu erinnern und damit die Neutralitätsinitiative zu unterstützen. Als langjährige Berufsschullehrer denken wir vor allem auch an die jungen Generationen, die in der Schule und im Studium oft keine gründliche Einführung mehr in die Schweizer Geschichte erhalten. Für Oberstufe, Berufsschule und Gymnasium sind die übersichtlichen und gut verständlichen Kapitel auch als Klassenlektüre geeignet.
Weshalb ist es aus Ihrer Sicht notwendig, dass die Schweiz zu einer integralen Neutralität zurückkehrt? Wo liegen die Schwierigkeiten bei der heutigen Art der Neutralität?
Marianne und Werner Wüthrich: Der Bundesrat hat im Zusammenspiel mit ausländischen Kriegsmächten die Neutralität der Schweiz bereits in kaum mehr zu behebender Art und Weise beschädigt. Zum Beispiel mit der Übernahme von Wirtschaftssanktionen der USA/EU gegenüber verschiedenen Ländern, oder mit dem neutralitätswidrigen Plan, dass die Schweizer Armee sich an Nato-Bündnisfallübungen beteiligen soll. Oder auch mit der Idee, Waffen aus Schweizer Produktion in Kriege, und zwar nur an eine Kriegspartei, liefern zu lassen. Da kann der Bundesrat lange beteuern, die Neutralität bleibe trotzdem bestehen. Die Frage ist, ob unsere Neutralität für die anderen Staaten, nicht nur die Westlichen, noch glaubwürdig ist. Mit der Glaubwürdigkeit unserer Neutralität steht und fällt der Beitrag der Schweiz zu einer friedlicheren Welt, so die guten Dienste und die Arbeit des IKRK. Deshalb ist die Besinnung auf eine Schweizer Neutralität, die diesen Namen verdient, so wichtig.
Manche Politiker und Vertreter anderer Länder fordern gar mehr Schweizer Engagement zugunsten von (vermeintlichen) Opfern von Konflikten sowie eine eindeutige Annäherung an die NATO. Was würden Sie diesen Personen gerne mitteilen?
Marianne und Werner Wüthrich: Ja, laut dem neuesten Bericht aus dem VBS fordert die Nato, die Schweiz müsse «bereit sein, substanzielle Beiträge zur Sicherheit ihrer Partner zu leisten.» Heute geht es vor allem um die Teilnahme der Schweiz an «Military Mobility», einem sogenannten EU-Projekt im Rahmen der Permanent Structured Cooperation (PESCO), das der Bundesrat durchgewinkt hat. Danach soll die Schweiz Nato- und EU-Truppen durch unser Land marschieren und unseren Luftraum überqueren lassen. An PESCO beteiligen sich laut VBS auch die Nicht-EU-Staaten USA, Kanada, Grossbritannien und Norwegen. In Österreich durchquerten letztes Jahr Tausende von Nato-Panzern und -Flugzeugen, mehrheitlich aus den USA, das Land. Stellen Sie sich das einmal vor, wenn da plötzlich Tausende von Panzern, Flugzeugen und Truppen durch unser Land kämen. Das kann ja nicht sein, dass die Schweiz dann noch ein neutraler Staat wäre.
Was sagen sie zu folgender Art von Neutralität: Bewaffnete Schweiz, bietet ihre «Guten Dienste» an, fördert durch Diplomatie Friedensprozesse zwischen Konfliktparteien, darf sich an Sanktionen beteiligen und an Projekten der Nato.
Marianne Wüthrich: Neutrale Aussenpolitik ist kein Jekami-Wunschkonzert. Entweder hält die Schweiz das Neutralitätsgebot ein, dann wird sie um die Leistung ihrer Guten Dienste oder um die Vermittlung zwischen Konfliktparteien gebeten – oder sie beteiligt sich an Sanktionen und an Nato-Bündnisfallübungen, dann wird sie von den meisten Staaten der Welt nicht mehr als neutral anerkannt.
Der Bündnisfall gemäss Artikel 5 Nato-Vertrag würde eintreten, wenn ein Nato-Mitgliedstaat angegriffen würde, dann müssten die anderen Länder beistehen. Unsere Soldaten müssten zum Beispiel für den Fall, dass das Nato-Mitgliedsland Türkei angegriffen würde, üben, an der syrischen Grenze zu stehen. Das ist absolut nicht vereinbar mit unserer Neutralität. Die Schweizer Kampfflugzeuge können zwar problemlos in Italien oder Schweden – wo es mehr Platz hat als bei uns – an Militärübungen teilnehmen, wie sie das heute schon tun. Aber die Beteiligung an Artikel 5 Übungen wäre ein ganz anderes Kaliber.
Ist es nicht naiv zu glauben, dass Grossmächte, wie etwa Russland, wegen der integralen Neutralität die Schweiz unter keinen Umständen angreifen würden? Was macht die Schweiz, wenn sie attackiert wird und ihr niemand zur Hilfe eilt, da sie nicht der NATO angehört?
Marianne und Werner Wüthrich: Wir würden die Frage umgekehrt stellen: Wird die Schweiz sicherer, wenn sie unter den Schutzschirm von Militärbündnissen schlüpft? Das ist sehr zu bezweifeln. In früheren europäischen Kriegen war die Schweiz gut beraten, ihre Neutralität beizubehalten. Die Bundesverfassung schreibt in Artikel 58 vor: «Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung.» Daran hat der Bundesrat sich zu halten. Stattdessen hat er im April beschlossen, bei der «European Sky Shield Initiative» mitzumachen. Ziel der Initiative ist laut dem deutschen Bundesministerium für Verteidigung «die Stärkung des europäischen Pfeilers in der gemeinsamen Luftverteidigung der NATO». Damit sind wir schon halb in der Nato. Statt mit der Nato und der EU den Krieg zu üben, sollte das VBS seinem Verfassungsauftrag nachkommen und das Geld gescheiter dafür ausgeben, dass die Armee wieder auf die Beine kommt, dass alle ausgerüstet sind, dass sie genügend Material, Bewaffnung und Munition haben.