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Leserbrief
Schweiz
02.02.2025
03.02.2025 17:06 Uhr

Freiheitsberaubung durch Wohlstand

Die Tatsache war unglaublich schockierend und schaltete nebst dem kämpfen um das Wohl des Kindes alles andere aus. 
Die Tatsache war unglaublich schockierend und schaltete nebst dem kämpfen um das Wohl des Kindes alles andere aus.  Bild: Barbara Bäurle / pixabay
«In der Natur ist die Nahrungskette ganz einfach und logisch, Feind oder Futter». Biologe und Wolfsexperte Marcel Züger warnt seit Jahren vor den Auswirkungen eines Nicht-Managements.

Der Leserbrief der Augenzeugin im Wortlaut: 

«Der Donnerstag 23. Januar 2025 hat sich tief eingebrannt. An diesem Tag war ich mit Familie Rhyner, der schwangeren Mutter Helen und ihren beiden Kindern, im Stall. Was um 11 Uhr vormittags unmittelbar neben dem Bergbauernbetrieb passierte ist medial bekannt. Das Bild wie die zwei Wölfe oberhalb von unserer Gesprächsrunde, zu der nun auch Grosi Regula dazugekommen ist, erscheinen, werde ich nie vergessen. Die Erkenntnis, dass Wölfe sich am heiterhellen Tag seelenruhig auf offener Fläche bewegen fühlte sich schon bei vorherigen Sichtungen nicht sehr entspannend an. Der Schock als wir realisierten, dass die Tiere sich in die Richtung des vierjährigen Sebastians bewegen war unbeschreiblich. Währendem ich die Tiere im Blickfeld hatte und auf sie zu rannte realisierte ich weiter, dass sich einer der beiden vom Weg absonderte und direkt auf den Jungen zulief. Diese Tatsache war unglaublich schockierend und schaltete nebst dem kämpfen um das Wohl des Kindes alles andere aus. 

Noch Minuten nachdem Sebastian in den Armen seiner Mutter war fühlten wir uns wie in einem schlechten Film. Natürlich leben wir schon seit einigen Jahren mit dem Wissen, dass sich diese Tiere - auf Grund dem offensichtlichen Bedürfnis hauptsächlich daran unbeteiligter Mitmenschen – sich unmittelbar unter uns befinden. 

Ich kann ihnen aber versichern liebe Leserinnen und Leser, wenn man hautnah erlebt wie sich diese Tiere bewegen, wie sie reagieren und wie unbedeutend wir für sie sind, bekommt die ganze Sachlage nochmal eine ganz andere Dimension. Viel muss sich die ländliche Bevölkerung ja über den Umgang mit dieser Art, ihrer vermenschlichten Sozialkompetenz oder unserem Fehlverhalten ihnen gegenüber anhören. Aber in Momenten wie wir drei Frauen sie erlebt haben gibt es genau etwas das unser im Keim noch vorhandener Urinstinkt uns sagt; der Wolf ist und bleibt ein Raubtier. Egal wie intensiv man sich am Schreibtisch mit einer Koexistenz befasst; es ist und bleibt nun mal keine Gämse, kein Reh und kein Füchslein, dass auf eines unserer Kinder zugeht. 
In der Natur ist die Nahrungskette ganz einfach und logisch, Feind oder Futter.
Biologe und Wolfsexperte Marcel Züger warnt seit Jahren vor den Auswirkungen eines Nicht-Managements. Für den Fachmann ist mit diesem Ereignis die nächste Eskalationsstufe erreicht – die Letzte vor dem Angriff auf Menschen.

Bewundernswert ist, wie Helen taff mit der Situation und dem breiten Interesse darauf umgeht. Dank der Selbstverständlichkeit wie sie auch den nicht verhinderbaren „Shitstorm“ auf gewissen Medienkanälen mit Humor nimmt, gelingt dies auch mir. Obschon man sagen darf bei einigen Reaktionen (und wir nehmen uns bei weitem nicht die Zeit für alle) würde mich interessieren wie Menschen die solche Kommentare wirklich ernst meinen in einer ähnlichen Situation reagieren würden. Von „dann müssten wir alle Kühe die uns nachlaufen und Kinder ansehen erschiessen“ über „in der ganzen Menschengeschichte ist noch nie ein Kind von einem Wolf angegriffen worden“ bis „man muss den Wolf vor dem Mensch schützen“ gingen die aus meiner Sicht völlig realitätsfremden Kommentare. Am meisten amüsiert hat mich jedoch die eine Person die tatsächlich meinte dem Wolf gehöre gefälligst geholfen, wir würden schon noch einmal merken, dass man Geld nicht essen kann. Da braucht es kein Studiengang um den Widerspruch dieser Aussage zu erfassen – ein bisschen logisches Denken würde aber sicher helfen. Schwer vorzustellen, dass diese Person in der heimischen Lebensmittelproduktion tätig ist…

Den Generationen vor uns, welche unseren Wohlstand mit harter Arbeit aufgebaut haben, werden wir mit unserem Umgang an ihrem Erbe und unserer eigenen Freiheitsberaubung zumindest nicht gerecht. 
Ich für meinen Teil habe den – übrigens mit erschreckender Körpergrösse gesegneten- Wolf direkt angesehen, seine Ignoranz näher rennenden lauter Menschen erfahren, gesehen wie er zielstrebig auf Sebastian zuging, habe bis in die Knochen gespürt wie machtlos wir wären wenn die Distanz zwischen Kind und uns grösser gewesen wäre. Diese Erkenntnis geht tief. Niemals würde es mir in den Sinn kommen Initiative für das sinnbildliche Krokodil zu ergreifen, dass dasselbe am Zürichsee mit einem Kind machte. Nein, ich -und da wäre ich sicher nicht die Einzige aus den Bergen - würde dieses Problem und dessen Lösung den Leuten überlassen die damit zu Leben haben… 

Was zählt ist, dass es Sebastian gut geht – würden wir alle mit derselben kindlichen Logik wie er mit dieser Sachlage umgehen, so könnten wir nebst Nerven auch unzählige Franken sparen. Tags darauf machte er sich spielerisch mit einem Skistock am Boden liegend auf Wolfsjagd.»

Barbara Bäuerle-Ryner, Augenzeugin beim Vorfall mit dem Wolf in Elm GL