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St. Gallen
07.02.2025
04.02.2025 06:38 Uhr

Ein Bergdorf mit Bedeutung

Die bisher einzige Missive in der Edition aus dem bündnerischen Stallen, Bivio wurde am 27.Oktober 1460 verfasst
Die bisher einzige Missive in der Edition aus dem bündnerischen Stallen, Bivio wurde am 27.Oktober 1460 verfasst Bild: StadtASG, Missive 350
Das Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde hat den Briefverkehr («Missiven») der Stadt St.Gallen von 1400 bis 1650 digital erfasst. Als «Missive des Monats» stellen wir Ihnen jeden ersten Freitag im Monat ein besonders interessantes Schriftstück vor.

Heute widmen wir uns dem Bündner Bergdorf Bivio, das bei der Gallusstadt um Reliquien, Altartücher und Messgewänder für einen neuen Kirchenaltar nachsuchte.

Bivio, bis 1903 auch als italienisch Stalla bekannt, liegt am Fuss der Alpenpässe Julier und Septimer in der Bündner Gemeinde Surses. Der Name Bivio stammt aus dem Lateinischen «bivium» und bedeutet «Wegscheide, Strassenkreuzung».

Der Ort ist im 9. Jahrhundert erstmals im churrätischen Reichsurbar als «stabulum bivio» (dt. Herberge an der Wegscheide) bezeugt und daraus haben sich die beiden Namenvarianten Stalla und Bivio entwickelt.

Der rätoromanische Name ist Beiva. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Bergdorfes pflegten Kontakt über den damals noch stark bewaldeten Julier ins Engadin und über den Stallerberg nach Avers sowie weiter über den Septimer ins Bergell.

Fotografie von Bivio im Jahr 1889. Der Septimer zweigt links Richtung Stallerberg ab und rechts am Rand die St.Gallus Kirche, dahinter über den Sattel zum Marmorerasee hinunter. In den Gärten wird kultiviert: Alpenampfer (Schweinefutter), Spinat, Salat, Rettich, Kartoffeln Bild: ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Hs 1360-0397

Bivio war historisch ein wichtiger Umschlagplatz für den Passverkehr. Seit dem Frühmittelalter gab es hier eine Sust und eine Station für den Wechsel der Saumtiere.

Die Bezeichnung Sust ist vor allem in der Schweiz gebräuchlich. Susten dienten als kurzfristige Lagerräume, oft in Form von überdachten Lauben oder geräumigen Bauten. Susten im kommunalen Besitz wurden von einem Sustmeister verwaltet, der die Sustgebühr einnahm. Diese Gebühr wurde von den Händlern und Säumern gezahlt, die ihre Waren dort lagerten.

Der Transport wurde meist abschnittsweise von Sust zu Sust als sogenannte Teilfuhr durch Landwirte im Nebenerwerb übernommen.

Ab dem 13. Jahrhundert wurden auch Säumergenossenschaften gebildet, die den Transport von Gütern abschnittsweise übernahmen.

Neben den öffentlichen Susten konnten die Säumer auch private Tavernen oder Gasthöfe – unter Berufung auf das Sustrecht – nutzen, so zum Beispiel, wenn die Durchfuhr auf direkten Weg vom selben Säumer über den Berg gebracht wurde. 

Dieses System erleichterte den Handel und den Austausch zwischen den Regionen, indem es den Transport und die Versorgung der Reisenden sicherstellte.

Säumer am Alpstein. Der Warentransport mithilfe von gebasteten Saumtieren wie Pferden, Maultieren, Eseln und wohl auch Kühen wurde bereits zur Römerzeit betrieben Bild: StadtASG, PA Foto Gross, BA3270

Die engen Verhältnisse zwischen Bivio und dem Bergell entstanden aber nicht nur durch den Passverkehr. Im 15. Jahrhundert begannen Bergeller Familien, die Maiensässe und Alpen in Bivio zu bewirtschaften. Ab dem 16. Jahrhundert liessen sich diese italienischsprachigen Familien nachweislich auch in den äusseren Fraktionen von Bivio ganzjährig nieder, während das Zentrum weiterhin romanischsprachig blieb.

Bis heute werden im Alltag der etwa 200 Einwohner und Einwohnerinnen nebeneinander Italienisch, Rätoromanisch und Deutsch gesprochen. Die besondere Stellung zeigt sich nicht nur im Neben- und miteinander von Sprachen. Bivio ist im ansonsten katholischen Surses seit der Reformation der einzige paritätische Ort. 

Bereits 1219 wird in Bivio ein «presbiter de Bivio» urkundlich erwähnt, was auf eine frühe kirchliche Präsenz als selbstständige Pfarrei mit einem eigenen Priester hinweist.

Doch dürften die Pfarrei und der erste Kirchenbau wesentlich älter sein.

Die Kirche in ihrer jetzigen Form mit einfachem Kirchenschiff und Chor, mit ebenso einfachem rippenlosem Kreuzgewölbe, ist aus der Bauzeit erhalten geblieben. Der Glockenturm wurde Ende 17. Jahrhunderts neu an der Westseite errichtet und war davor vermutlich nach Norden ausgerichtet.

Die Pfarrkirche trägt das Patrozinium des Heiligen Gallus, wie in Dokumenten von 1459 und in der Missive von 1460 bezeugt. Das Patrozinium eines Heiligen war im Mittelalter von grosser Bedeutung, da es den Schutz und die rechtliche Bindung der Kirche an den Heiligen symbolisierte.

Die katholische Pfarrkirche St.Gallus mit Chor, Schiff und Glockenturm in Bivio auf 1769 m ü. M. Bild: Jakob Kuratli Hüeblin, sanktgallus.net

Janot Fulschill, der Ammann, schreibt in der Missive zusammen mit der Gemeinde von Bivio an Bürgermeister und Rat zu St.Gallen. Die St.Galler seien Stifter und vor allem Nutzer ihrer Kirche, weshalb ihre Kaufleute, die Handel über die Pässe betrieben, Privilegien in Bivio hätten. Bivio habe einen neuen Kirchenaltar gebaut, und sie bitten nun um Reliquien, Altartücher und Messgewänder.

Die mittelalterlichen Pfarreien besassen oft nur die nötigsten liturgischen Gegenstände, wie eine Bibel und ein Messbuch. In dieser Zeit war die Kirche nicht nur ein religiöses, sondern auch ein soziales Zentrum. Die katholischen Pfarreien in der Region waren damals oft als Stiftungen organisiert, die für den Bau und Unterhalt von Kirchen sowie die Besoldung von Pfarrern verantwortlich waren.

Sechs Jahre nach dem Versand der Missive ist überliefert, dass am 3. Dezember 1466 nach grösseren Bauvorhaben drei Altäre in der Kirche durch den Churer Weihbischof Johannes Nell aus dem Minoritenorden neu konsekriert wurden.

Während der Reformation erlebte auch Bivio religiöse Spannungen, als sich ein Teil der Bevölkerung dem Protestantismus zuwandte.

1584 wird erstmals eine evangelische Gemeinde in Bivio erwähnt, 1623 zählte die Gemeinde 40 reformierte Familien.

Die Ursprünge des reformierten Glaubens in Bivio lassen sich nicht mehr genau ausmachen. Möglicherweise haben Säumer die neuen Glaubensauffassungen mitgebracht, bestimmt waren aber auch die Bergeller Bauern an der Verbreitung des neuen Glaubens beteiligt. Zunächst feierten die Reformierten in der katholischen Galluskirche, was zu wiederholten Streitigkeiten führte.

Im Jahr 1657 regelte der Bundestag der Drei Bünde, dass die Galluskirche im Besitz der Katholiken bleiben sollte, während die Reformierten einen eigenen Raum im Haus Salis-Soglio erhielten. 1671 wurde den Reformierten schliesslich der Bau einer eigenen Kirche gestattet, jedoch ohne Glockenturm. Dieser wurde erst 75 Jahre später, 1746 errichtet. So entstand die evangelische Kirche von Bivio, die bis heute besteht.

Die Geschichte der St.Gallus Kirche als Pfarrkirche, ihre Verbindung zu den St.Galler Stiftern und Kaufleuten und die konfessionellen Spannungen, die das Leben in Bivio neben dem regen Passverkehr prägten, werfen einen faszinierenden Blick auf das Zusammenspiel von Religion, Wirtschaft und Kultur in dem kleinen, mehrsprachigen Bergdorf.

Die erwähnte Missive Nr. 350 ist abrufbar unter: missiven.stadtarchiv.ch

Literatur

  • Kristol, Andres Max, Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit in Bivio (Graubünden). Linguistische Bestandesaufnahme in einer siebensprachigen Dorfgemeinschaft (Romanica Helvetica. 99). Francke. Bern 1984.
  • Poeschel, Erwin, Die Kunstdenkmäler des Kantons Graubünden. III. Die Talschaften Räzünser Boden, Domleschg, Heinzenberg, Oberhalbstein, Ober- und Unterengadin (Kunstdenkmäler der Schweiz. Band 11). Hrsg. von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK. Bern 1940.
Alina Mächler