Janot Fulschill, der Ammann, schreibt in der Missive zusammen mit der Gemeinde von Bivio an Bürgermeister und Rat zu St.Gallen. Die St.Galler seien Stifter und vor allem Nutzer ihrer Kirche, weshalb ihre Kaufleute, die Handel über die Pässe betrieben, Privilegien in Bivio hätten. Bivio habe einen neuen Kirchenaltar gebaut, und sie bitten nun um Reliquien, Altartücher und Messgewänder.
Die mittelalterlichen Pfarreien besassen oft nur die nötigsten liturgischen Gegenstände, wie eine Bibel und ein Messbuch. In dieser Zeit war die Kirche nicht nur ein religiöses, sondern auch ein soziales Zentrum. Die katholischen Pfarreien in der Region waren damals oft als Stiftungen organisiert, die für den Bau und Unterhalt von Kirchen sowie die Besoldung von Pfarrern verantwortlich waren.
Sechs Jahre nach dem Versand der Missive ist überliefert, dass am 3. Dezember 1466 nach grösseren Bauvorhaben drei Altäre in der Kirche durch den Churer Weihbischof Johannes Nell aus dem Minoritenorden neu konsekriert wurden.
Während der Reformation erlebte auch Bivio religiöse Spannungen, als sich ein Teil der Bevölkerung dem Protestantismus zuwandte.
1584 wird erstmals eine evangelische Gemeinde in Bivio erwähnt, 1623 zählte die Gemeinde 40 reformierte Familien.
Die Ursprünge des reformierten Glaubens in Bivio lassen sich nicht mehr genau ausmachen. Möglicherweise haben Säumer die neuen Glaubensauffassungen mitgebracht, bestimmt waren aber auch die Bergeller Bauern an der Verbreitung des neuen Glaubens beteiligt. Zunächst feierten die Reformierten in der katholischen Galluskirche, was zu wiederholten Streitigkeiten führte.
Im Jahr 1657 regelte der Bundestag der Drei Bünde, dass die Galluskirche im Besitz der Katholiken bleiben sollte, während die Reformierten einen eigenen Raum im Haus Salis-Soglio erhielten. 1671 wurde den Reformierten schliesslich der Bau einer eigenen Kirche gestattet, jedoch ohne Glockenturm. Dieser wurde erst 75 Jahre später, 1746 errichtet. So entstand die evangelische Kirche von Bivio, die bis heute besteht.
Die Geschichte der St.Gallus Kirche als Pfarrkirche, ihre Verbindung zu den St.Galler Stiftern und Kaufleuten und die konfessionellen Spannungen, die das Leben in Bivio neben dem regen Passverkehr prägten, werfen einen faszinierenden Blick auf das Zusammenspiel von Religion, Wirtschaft und Kultur in dem kleinen, mehrsprachigen Bergdorf.
Die erwähnte Missive Nr. 350 ist abrufbar unter: missiven.stadtarchiv.ch