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04.04.2025

Steigende Schulden – bargeldlosen Moderne?

Schreiben von Schultheiss und Rat von Frauenfeld an die St.Galler Stadtregierung vom 26. März 1650. Schriftbeispiel zur Verzierung einer Missive mit noch oben verlängertem Vertikalstrich der Buchstaben auf der ersten Linie
Schreiben von Schultheiss und Rat von Frauenfeld an die St.Galler Stadtregierung vom 26. März 1650. Schriftbeispiel zur Verzierung einer Missive mit noch oben verlängertem Vertikalstrich der Buchstaben auf der ersten Linie Bild: StadtASG, Missive 4022
Das Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde hat den Briefverkehr («Missiven») der Stadt St.Gallen von 1400 bis 1650 digital erfasst.

Als «Missive des Monats» stellen wir Ihnen jeden ersten Freitag im Monat ein besonders interessantes Schriftstück vor. Heute zeigen wird, dass hohe Verschuldungen weder eine Folge der Erfindung der Kreditkarte noch des Onlinehandels sind.

Misst man die Verschuldung der Schweizer Bevölkerung mit der Anzahl Betreibungen und Konkurseröffnungen, so ist diese stark wachsend. 2023 wurden in der Schweiz mehr als drei Millionen Zahlungsbefehle ausgestellt (gegenüber 2,7 Millionen im Vorjahr). Dieser Anstieg wird unter anderem mit verändertem Konsumverhalten erklärt: Online-Angebote verleiten zu spontanen Käufen, und bargeldlose Zahlungen erschweren die Kontrolle über die eigene Liquidität.

Schaut man allerdings zurück in der Geschichte, so relativiert sich die Ansicht des hohen Verschuldungsgrads von Personen und Firmen im 21. Jahrhundert, und es zeigt sich, dass hohe Verschuldungen weder eine Folge der Erfindung der Kreditkarte noch des Onlinehandels sind.

Am 26. März 1650 traf Post aus Frauenfeld bei der St.Galler Stadtobrigkeit ein. Die Sendung bestand aus zwei Briefen. Der eine stammte von Werner Hurter, ehemaliger Schultheiss, der seine Zeilen an die St.Galler Firma «Hans Fitler und Mitverwandte» richtete. Aus seinem Schreiben geht hervor, dass sein Sohn Franziskus der genannten St.Galler Firma Geld schuldete.

Werner Hurter bot den Gläubigern an, für die Schulden seines Sohnes als Bürge einzustehen und diese gestaffelt zu bezahlen. Im zweiten beigelegten Schreiben empfahl die Frauenfelder Stadtobrigkeit den St.Galler Gläubigern, auf Hurters Angebot einzugehen. Angesichts der derzeitigen Teuerung sei es nicht realistisch, die gesamte Schuldsumme inklusive Zinsen auf einmal zurückzuerhalten.

Stadtansicht von Frauenfeld vor 1650. Druckgrafik von Matthias Merian (1593-1659) Bild: ZB, STF XIX, 25

20 Tage zuvor hatte ein Bote mit Post für Frauenfeld die Stadt St.Gallen verlassen. Darin enthalten waren ebenfalls zwei Briefe. Im einen baten die Fitlerschen Direktoren den Thurgauer Franziskus Hurter darum, seine Schulden zu begleichen.

Im anderen empfahl der St.Galler Stadtrat die Berücksichtigung der Forderung und bat darum, den mit dieser Sache betrauten St.Galler Anwalt vor dem für Schuldsachen zuständigen Frauenfelder Gericht zuzulassen. Über die Hintergründe, die zu dieser Schuld geführt haben, sind wir nicht informiert. 

Missiven, die entweder Schulden von Auswärtigen bei St.Gallern oder auch Schulden von St.Gallern bei Auswärtigen thematisieren, sind im Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St.Gallen sehr zahlreich überliefert.

Bisweilen verliessen oder erreichten die Stadt sogar Steckbriefe von Personen, die angesichts ihrer Schulden bei Nacht und Nebel aus der Stadt verschwanden, wohl darauf hoffend, andernorts ein neues Leben beginnen zu können und ihre Schulden dauerhaft los zu sein.

Ein Geldwechsler tauscht fremde Münzen in ortsübliches Geld um. Er arbeitet an einer Wechselbank und bietet neben dem Münztausch auch Geldanlagen an, stellt Wechselbriefe aus und verleiht Geld gegen Pfänder oder Verschreibungen Bild: Geldwechsler, Illustration aus «Libro di Givocho di Scacchi» von Jacobus de Cessolis, 1493

Warum waren Schulden im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit so verbreitet? Ein Grund dafür ist ein Phänomen, das wir eigentlich mit dem späten 20. und vor allem mit dem 21. Jahrhundert assoziieren: das bargeldlose Zahlen.

Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gab es selbstverständlich weder Kreditkarten noch Twint, sondern ausschliesslich Bargeld sowie Wechselbriefe.

Bargeld existierte in verschiedenen Kategorien: Erstens gab es international umlaufende und vor allem für grössere Zahlungen verwendeten Gold- und grossen Silbermünzen; zweitens kleine Silbermünzen, welche ausschliesslich in einem begrenzten Gebiet zugelassen waren und für den täglichen Geldverkehr gebraucht wurden; sowie drittens aus einer Münzeinheit, die als reine Rechnungseinheit diente, in der Schulden, Guthaben und die meisten Preise festgehalten wurden.

Zudem dienten Wechselbriefe dem Zahlungsverkehr zwischen verschiedenen Orten ohne Transport von Bargeld.

Kreuzer, der als Standardmünze in St.Gallen in Umlauf war. Auf der Vorderseite ist ein zügelloser Bär abgebildet mit der Beschriftung SANGALLEN 1618. Auf der Rückseite ist der Münzwert 3 im Kreis auf der Brust des Reichsadlers zu erkennen Bild: Numista-Katalog

Im Alltag waren die kleinen Silbermünzen in Gebrauch. Diese dienten dem Einkauf auf dem Markt, der Bezahlung eines Mediziners oder Handwerkers. Gleichzeitig gab es mit diesen Münzen jedoch ein Problem: An ihnen herrschte eklatanter Mangel.

Das heisst also, dass man im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit selbst dann nicht alle Kaufgeschäfte bezahlen konnte, wenn man nicht unter Armut litt – allein aufgrund der Tatsache, dass man keine Münzen im erforderlichen Wert zur Verfügung hatte. 

Das führte dazu, dass im Alltag unzählige Kreditgeschäfte entstanden – also weit mehr als die heute gängigen Kreditgeschäfte, die durch bewusste und geplante Aufnahme eines Konsumkredits erfolgen oder durch beabsichtigte Nicht-Bezahlung aufgrund eines ungedeckten Kontos. Man liess im Alltag also oft und auch gegenseitig «anschreiben» mit dem Ziel, an einem bestimmten Datum die Differenz zu begleichen.

Diese Praxis führte dazu, dass Schulden enorm häufig waren. Insofern ist das Phänomen der Bargeldlosigkeit tatsächlich ein wesentlicher Grund für die Zunahme der Verschuldung innerhalb einer Bevölkerung; mit der Präzisierung, dass dies nicht erst ein Merkmal der Moderne ist. 

Die erwähnte Missive Nr. 4022 ist abrufbar unter: missiven.stadtarchiv.ch

Ergänzend dazu: missiven.stadtarchiv.ch

Literatur

  • Anne Geiser: «Münzen», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 21.01.2010, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013663/2010-01-21/, konsultiert am 22.03.2025.
  • Dorothee Guggenheimer, Kredite, Krisen und Konkurse. Wirtschaftliches Scheitern in der Stadt St.Gallen im 17. und 18. Jahrhundert, Zürich 2014.
  • Dorothee Guggenheimer, Pleitiers an den Pranger? in: Vögele Kultur Zentrum (Hg.), Ein Knacks im Leben. Wir scheitern… und wie weiter? Vögele Kulturbulletin #102, S. 36–37.
  • Martin Körner; Jean-François Bergier: «Wechselbrief», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.05.2014, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026229/2014-05-08/, konsultiert am 22.03.2025.
  • Benedikt Zäch, Kanton St.Gallen I. Mittelalterliche und neuzeitliche Münzfunde. Inventar der Fundmünzen der Schweiz 6, Bern 2001.
Dorothee Guggenheimer