
Wie St.Gallen sein fotografisches Gedächtnis bewahrte


«Ach, wie gut, dass niemand weiss, dass ich Rumpelstilzchen heiss!»
Aus dem Tagebuch von Alt-Stadtarchivar Ernst Ziegler
Montag, 28. September 2009:
Fotosammlung und Fotoarchiv
«Kurze Zeit nach meinem Amtsantritt als Stadtarchivar von St.Gallen 1971 wurde ich auf das Fotogeschäft Zumbühl vor dem Brühltor an der Rorschacher Strasse aufmerksam. Durch Vermittlung der Brüder Heinrich und Otto Zumbühl gelang es später, ihre einzigartige Fotosammlung 1973 der damaligen Stadtbibliothek «Vadiana» zu übergeben.
1976 erschien das Bändchen «St.Gallen, wie es nicht mehr steht»; Stadtbibliothekar Peter Wegelin schrieb in der Einleitung über «Das Lichtbild erhellt die Vergangenheit»: «Hermann Bauer, als Redaktor der ‹Ostschweiz› ein Tageschronist unserer Stadt, der auch für deren vergangene Tage seinen Lesern die Augen öffnet, hatte in einer Zeitungsfolge anhand von Dokumenten aus der Sammlung Zumbühl ‹St.Gallen, wie es nicht mehr steht› in Erinnerung gerufen. Und nun hat Ernst Ziegler, der Stadtarchivar und aufgeschlossene Betreuer der urkundlichen Zeugnisse unserer Baugeschichte, den Abbildungen zur zeitlichen Tiefendimension verholfen: die Aussagekraft des Bildes hat die notwendige Verstärkung aus den Schriftdokumenten erhalten.»

Schon während meiner Archivausbildung am Staatsarchiv Basel-Stadt war mir der grosse Aussage- und Quellenwert der Fotografie bewusst geworden – nicht zuletzt durch die Bildbände von Eugen A. Meier, z.B. «Basel in der guten alten Zeit, Von den Anfängen der Photographie (um 1856) bis zum Ersten Weltkrieg» von 1972. Die Geburt dieses Bestsellers habe ich um 1970 interessiert verfolgen und miterleben dürfen.
In St.Gallen imitierte ich dann meinen Freund Hermann Bauer, bin nach seinem viel zu frühen Tod sozusagen sein Nachfolger geworden – mit Zeitungsfolgen wie «St.Gallen im Wandel der Zeit» (1978, 1999–2003), «St.Gallen in alten und neuen Ansichten» (1995, 1997). 1980 erschien «St.Gallen in alten Ansichten», Band 1, vierte Auflage 2000; 1997 als Band 2 «Die Stadt um die Mitte des 20. Jahrhunderts». Das Bändchen «Gaiserwald in alten Ansichten» erschien 1983; eine zweite, erweiterte Auflage 1996. (In Vorbereitung ist gegenwärtig der Band «Ziegler in alten Ansichten»).
Sowohl für die Zeitungsartikel als auch für die veröffentlichten Abbildungen in den genannten Bändchen konnte ich immer dankbar auf die Fotosammlung von Erich Gross zurückgreifen – wie natürlich auch für Fotografien in anderen Büchern oder in Ausstellungen, beispielsweise im Tröckneturm in Schönenwegen oder in der dort benachbarten Scheune (vgl. Ernst Ziegler: Geschichte im Tröckneturm zu Schönenwegen in St.Gallen, St.Gallen 2007).

Im zweiten Band von «St.Gallen in alten Ansichten» schrieb ich: «Für den zweiten Band mit alten Ansichten der Stadt St.Gallen wurden unter anderem Abbildungen aus dem Stadtarchiv, der Sammlung Zumbühl in der Vadianischen Sammlung in der Kantonsbibliothek (Vadiana) St.Gallen und vor allem 96 Bilder von Foto Gross in St.Gallen verwendet. – Das Geschäft der Foto Gross AG mit rund zwanzig Mitarbeitern wird heute von Erich Gross in der dritten Generation geführt.
Die Firma war 1921 von Grossvater Hans Gross gegründet und in der zweiten Generation von den Söhnen Guido und Hans Gross weitergeführt worden. Foto Gross macht Porträt- und technische Aufnahmen sowie Reportagen und führt ein Fotofachgeschäft, einen Aufziehservice und seit 1921 einen Ansichtskartenverlag. In der ganzen Ostschweiz (St.Gallen, Appenzell, Thurgau, Schaffhausen, Zürich, Glarus und Graubünden) werden Kioske, Papeterien und Gastbetriebe mit Ansichtskarten beliefert.
Das Fotohaus Gross verfügt über eine Sammlung von 13’000 Glasnegativen im alten Ansichtenformat und 17’000 Glasnegativen im Weltformat sowie 55’000 Luftaufnahmen. Zwischen 1927 und heute erstellte der Ansichtskartenverlag rund 2’000 Ansichtskarten mit St.Galler Sujets.»

Als Historiker und Kenner der gut erschlossenen, «gross-artigen» Fotosammlung Gross schätze ich den ideellen Quellenwert dieser einmaligen Dokumente ausserordentlich hoch ein – so hoch, dass selbiger mit Geld kaum aufgewogen werden kann! Über den materiellen Wert dürften die Schätzungen ziemlich weit auseinanderliegen.
Die «Idealisten» und «Materialisten» werden sich auf eine faire und vernünftige Summe einigen müssen, wohl bedenkend, dass eine so einzigartige Sammlung in einer öffentlichen Institution, wie beispielsweise das Stadtarchiv St.Gallen, gut aufgehoben ist und kommenden Generationen auf lange Zeit erhalten werden kann – was bei einem Verbleib oder Übergang in Privatbesitz weniger der Fall sein dürfte.
Es ist zu bedenken, dass mit den gegenwärtigen Methoden des Fotografierens und der Fotografie die Haltbarkeit der Bildträger – weder Glasplatten noch Negative usw. – nicht sicher feststeht. Es kann sein, dass in hundert Jahren aus der Zeit von 1860 bis 1960/2000 viel mehr Abbildungen der Stadt und des Kantons St.Gallen noch existieren, als aus den Jahren 2000 bis 2100: Wir werden es mit Fassung tragen, aber nicht mehr erleben!»
(Hier endet der Tagebucheintrag von Ernst Ziegler)

Im Jahr 1980 erschien im Verlag der Europäischen Bibliothek in Zaltbommel (Niederlande) der erste Band von «St.Gallen in alten Ansichten».
Das Büchlein enthält 151 Abbildungen der Stadt St.Gallen aus der Zeit von 1880 bis 1930. Im Einverständnis mit dem Verlag, der einen zweiten Band gewünscht hat, wurden im folgenden neuere Fotografien aus der Zeit von etwa 1920/30 bis 1955 publiziert – eine Fortsetzung des ersten Bandes und eine neue Darstellung der Stadt St.Gallen vor mehr oder weniger einem halben Jahrhundert.
An diese Stadt, an die abgebildeten Gassen, Strassen, Plätze, Gebäude usw. kann ich mich teilweise noch erinnern. Beim Durchsehen von Hunderten von Fotos und Auswählen kam es mir vor, unsere Stadt sei vor einem halben Jahrhundert irgendwie menschlicher, heimeliger gewesen. Es war noch nicht diese citykalte und abendtote Stadt, als die sie der erlebt, welcher tatsächlich noch in der Stadt wohnt.

Wenn wir eine Fotografie von 1933 oder 1939 betrachten, dann sah dieselbe Strasse, dieser Platz im Jahre 1945 oft noch genau gleich aus; die Zeit war vor einem halben Jahrhundert – geschweige denn früher – irgendwie viel «langlebiger».
Für den zweiten Band mit alten Ansichten der Stadt St.Gallen wurden unter anderem Abbildungen aus dem Stadtarchiv, der Sammlung Zumbühl in der Vadianischen Sammlung in der Kantonsbibliothek (Vadiana) St.Gallen und vor allem 96 Bilder von Foto Gross in St.Gallen verwendet.

Noch bis am 10. August 2025 ist im Kulturmuseum St.Gallen die Sonderausstellung «St.Gallen – ein Jahrhundert in Fotografien. Die Sammlung Foto Gross» zu sehen. Gleichzeitig erschien eine Publikation, verfasst und herausgegeben durch das Stadtarchiv der Ortsbürger- und der Politischen Gemeinde St.Gallen.
Buch und Ausstellung gewähren faszinierende Einblicke in ein Jahrhundert Ostschweizer Geschichte und beleuchten dabei die grossen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen der Region. Die Sammlung im Besitz der Stadtarchive umfasst Hunderttausende Fotografien, die von Alltagsszenen bis hin zu historischen Ereignissen reichen – eine visuelle Reise durch die Zeit. In Ausstellung und Buch wird eine breite Auswahl der Fotografien inszeniert. In mehreren Kapiteln laden sie zu einem Spaziergang durch hundert Jahre Geschichte ein.
Ein vielseitiger Blick auf den Wandel der Gesellschaft
Ein erster Themenblock in der Ausstellung ist den tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt und Ausbildung gewidmet. Von Klassenfotos, die ab den 1970er-Jahren einen gelockerten Zeitgeist widerspiegeln, bis hin zu den sich wandelnden Berufsbildern – die Aufnahmen zeigen den strukturellen und sozialen Wandel eindrucksvoll. Ein weiteres interessantes Thema ist der Konsum: Stand vor dem Zweiten Weltkrieg die Grundversorgung im Fokus, brachte das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit einen rasanten Anstieg der Kaufkraft und des Produkteangebots mit sich.
Die Besucher erhalten ebenfalls spannende Einblicke in die Freizeitgestaltung des 20. Jahrhunderts – von frühen Bergbahnen und Skiliften über das Aufkommen von Freizeitparks bis hin zur Omnipräsenz des Fernsehens. Auch die Mobilität wird beleuchtet: Historische Aufnahmen dokumentieren die Ablösung der Trams durch Trolleybusse, den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und die Veränderungen im Stadtbild St.Gallens.
Tradition, Architektur und die Stadt im Wandel
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Bräuchen und Festen, die Foto Gross über Jahrzehnte hinweg festgehalten hat – von der OLMA und OFFA über Gewerbeumzüge bis hin zu traditionellen Prozessionen. Auch die Stadtentwicklung wird sichtbar: Durch wiederkehrende Blickwinkel der Fotografen lassen sich bauliche Veränderungen direkt vergleichen – von den Jugendstilvillen am Rosenberg bis zu den Sichtbetonbauten der Universität St.Gallen.
Begleitprogramm mit vielfältigen Formaten
Die Ausstellung wird durch ein umfangreiches Begleitprogramm ergänzt. Neben Führungen mit Themenschwerpunkten in der Ausstellung bieten architekturhistorische Rundgänge in der Stadt vertiefende Einblicke in die städtebauliche Entwicklung. Fotokurse und Workshops vermitteln, wie Fotos vor dem Zeitalter der Digitalisierung entstanden, und interaktive Formate laden dazu ein, sich mit der eigenen fotografischen Erinnerungskultur oder mit der Bilderwelt auf Social Media heute auseinanderzusetzen.
Publikation «Fotografien aus einem Jahrhundert»
Die Publikation der Stadtarchive vertieft die Themen der Ausstellung mit zahlreichen weiteren Bildern und mit Texten, die der Einbettung der Bilder in die Geschichte des 20. Jahrhunderts dienen.
Fotografien aus einem Jahrhundert – Die Sammlung Foto Gross der Stadtarchive St.Gallen.
236 Seiten, Fr. 45.–, ISBN 978-3-03895-070-7
