Home Region Schweiz/Ausland Sport Rubriken Agenda
Bildung
21.04.2025

«Weg der Vielfalt»: Die Kindsmörderin Frieda Keller

Frieda Keller (1879-1942)
Frieda Keller (1879-1942) Bild: Archiv
Die kulturhistorische Vielfalt von St.Gallen zeigt sich an zahlreichen Orten. Eine interaktive Karte lädt dazu ein, die Stadt und bisher eher unbekannte Erinnerungsorte sowie deren Geschichten zu entdecken. Unser Partnerportal stgallen24 stellt in loser Folge einige besondere Orte vor. Heute: Frieda Keller, die Kindsmörderin.

1904 stand in St.Gallen die 25-jährige Damenschneiderin Frieda Keller wegen Kindsmords vor Gericht. Doch kann im Fall Frieda Keller wirklich von einer Täterin gesprochen werden? War sie nicht vielmehr ein Opfer der Umstände und handelte aus Verzweiflung?

Frieda hatte fünf Jahre zuvor den Buben Ernst geboren, heimlich. Nur ihre Mutter wusste davon, die sie unterstützte. Das Baby brachten sie in der Kleinkinderbewahranstalt Tempelacker in St.Gallen unter. So konnte Frieda auch im engsten Umfeld ihre Mutterschaft verbergen.

Frieda Keller stammte aus Bischofszell und arbeitete in St.Gallen. An einem Sonntagabend, als sie im Restaurant Post in Bischofszell aushalf, stieg ihr der Wirt in den Keller nach und vergewaltigte sie. Frieda wurde schwanger.

Eine Vaterschaftsklage war aussichtslos, da im Kanton Thurgau Ehemänner nicht eingeklagt werden konnten, wenn die Vergewaltigte Kenntnis davon hatte, dass der Täter verheiratet war. Beim Tod der Mutter 1903 erbte Frieda zwar einen Geldbetrag, doch getraute sie sich nicht, dieses Geld von ihrem Bruder einzufordern. 

Die Stadt St.Gallen blickt auf eine über tausendjährige Vergangenheit zurück, wobei die erhaltene Bausubstanz – von wenigen Ausnahmen abgesehen – aus der Zeit nach dem letzten grossen Stadtbrand von 1418 stammt. Viele Bauwerke, die für das heutige Stadtbild wichtig sind und zum baukulturellen und kunstgeschichtlichen Erbe gehören, zeugen von den sozialen Machtverhältnissen und vom jeweils zeittypischen Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit dem ihr Fremden.

Es soll die Aufgabe des «Wegs der Vielfalt» sein, nicht nur aus heutiger Sicht problematische Darstellungen oder Orte mit einer belasteten Vergangenheit zu erkennen und den geschichtlichen Bezug herzustellen, sondern auch Geschichten von Widerstand, Solidarität und Gemeinsinn zu erzählen.

Mit fünf Jahren wurde Ernst zu alt für das Kinderheim Tempelacker. Die dortigen Verantwortlichen forderten Frieda Keller auf, einen neuen Platz für ihn zu finden. Frieda wusste weder ein noch aus. Am 2. Mai 1904 holte sie Ernst im Tempelacker ab und ging mit ihm in den nahe gelegenen Hagenbuchwald.

Dort erdrosselte sie den Buben mit einer Paketschnur und vergrub die Leiche im Waldboden.

Bei ihrer Verhaftung gestand sie sofort. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Todesstrafe. Mildernde Umstände wurden ihr trotz der Bemühungen ihres Verteidigers nicht zuerkannt. Später wurde das Todesurteil in lebenslange Haft umgewandelt.

Der Fall bewegte Anwälte, Presse und Zivilgesellschaft. Vor allem in den neuen Frauenorganisationen war die Empörung gross: Entsetzen darüber, wie die männerbestimmte Justiz mit Täterinnen umging und wie einfach es Männern gemacht wurde, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen. 

Die darauf einsetzende Diskussion zu Gleichberechtigung und Gerechtigkeit führte schliesslich zu Reformen in der Justiz. Für Frieda Keller kamen diese Reformen allerdings zu spät: Sie wurde zwar nach 16 Jahren aus der Haft entlassen, doch nun war sie «geisteskrank» und wurde in eine geschlossene Anstalt eingewiesen.

Weiterführende Quellen:

  • Brendle, Maria: Friedas Fall (Film). 2024.
  • Degginger-Unger, Marianne: «Keine mildernden Umstände für die Kindsmörderin», in: blütenweiss bis rabenschwarz. St. Galler Frauen – 200 Porträts. Marina Widmer, Heidi Witzig (Hg.). Zürich 2003, S. 232–234.
  • Minelli, Michèle: Die Verlorene. Die Geschichte der Frieda Keller. Berlin 2015.
  • Staatsarchiv St.Gallen:  Der Prozess einer Kindsmörderin erregte vor 120 Jahren die St.Galler Gemüter . Unterlagen GA 002/329
stgallen24/stz. / Toggenburg24