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Gesundheit
04.05.2025

Dr. Unterland: «Ein Leben in Würde – mit oder ohne Behinderung»

Bild: KI/zVg
zu24-Frühlingsserie mit Hausarzt 4.0 Dr. med. Giovanni Fantacci. Heute: Warum Lebensqualität nicht von aussen messbar ist – und was wahre Inklusion bedeutet.

Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten viele Menschen mit Behinderungen eine drastisch verkürzte Lebenserwartung. Heute erreichen sie dank medizinischem Fortschritt und besserer Versorgung ein hohes Alter. Heutzutage stellen sich viele Fragen, wie Menschen mit Behinderungen besser in der Gesellschaft integriert werden können.

Allzu oft wird von aussen über die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen geurteilt. Aussagen wie "Das ist doch kein würdiges Leben!" oder "Dieser Mensch hat keine Lebensqualität!" sind keine Seltenheit. Doch die Innenperspektive sieht oft ganz anders aus. Ein Patient, der seit Geburt eine Behinderung hatte, genoss das Leben: Er lachte, sang, freute sich auf Besuche und führte ein erfülltes Dasein innerhalb einer betreuten Struktur. Für ihn war das Leben wertvoll – warum sollte jemand von aussen darüber richten?

Noch häufiger als angeborene Behinderungen sind jene, die durch Krankheit oder Unfall entstehen. Ein Verwandter von mir leidet an Retinitis pigmentosa, einer unaufhaltsamen Netzhauterkrankung, die zur Erblindung führt. Mit der Unterstützung seiner Ehefrau arbeitet er weiterhin als Rechtsanwalt und hat mit ihrer Hilfe sogar den New-York-Marathon absolviert. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass Behinderung nicht gleichbedeutend mit Hoffnungslosigkeit ist.

Die Philosophin Barbara Schmitz beschreibt in ihrem Buch "Was ist ein lebenswertes Leben?", dass die betroffenen Menschen selbst am besten wissen, ob ihr Leben lebenswert ist. Der zentrale Begriff, der hier zur Diskussion steht, ist die Menschenwürde. Gemäss Immanuel Kant beruht sie auf der Fähigkeit des Menschen zu moralischem Handeln. Der Philosoph Avishai Margalit betrachtet die Würde aus einer anderen Perspektive: Er definiert sie über das, was sie verletzt, nämlich Demütigung und Verachtung.

Menschen mit Behinderungen stehen immer wieder vor Herausforderungen, sei es durch mangelnde Barrierefreiheit, soziale Ausgrenzung oder überhebliche Urteile über ihre Lebensqualität. Die Aufgabe unserer Gesellschaft ist es, menschenwürdige Bedingungen für alle zu schaffen. Inklusion bedeutet nicht, Menschen mit Behinderungen "zu integrieren", sondern ihnen selbstverständlich einen Platz in der Mitte der Gesellschaft zu geben. Denn würdevolles Leben ist nicht das, was wir von aussen definieren, sondern das, was jeder Mensch für sich selbst empfindet.

Dr. med. Giovanni Fantacci, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin mit Hausarztpraxis in Niederhasli.

Giovanni Fantacci/mj / Toggenburg24