Die Situation im appenzellischen Tourismus ist komplex. Einerseits klagen vor allem die kleineren Hotels über leere Betten. Andererseits ist das Appenzellerland als Destination so beliebt, dass im Alpstein zuweilen Zustände herrschen, die an Overtourism erinnern: Parkplatzprobleme, wildes Campieren, Abfall, zunehmendes Mountainbiking und Flipflop-Eintagestouristen auf Bergwegen belasten die Natur sowie Polizei und Rettungskräfte.
Das zeigt: Der Alpstein ist ein Magnet und dies nicht erst seit neuem. Schon früh lockten die Alpen und der Alpstein Touristen in die Schweiz, wie ein Blick zurück ins 18. und 19. Jahrhundert zeigt.
Von schrecklich zu schön
Auf dem einzigartigen Alpfahrtsbild des Appenzeller Bauernmalers Franz Anton Haim, das um 1880 entstand, sind im Hintergrund Frauen und Männer in bürgerlich-städtischer Bekleidung zu erkennen, die bestückt mit Sonnenschirm und Wanderstöcken den Säntis oder andere Berge des Alpsteins erklimmen.
Sie sind Zeugen eines Massentourismus, der das Appenzellerland und viele andere alpine und voralpine Regionen heimsuchte. Das hängt mit einer gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung im damaligen Europa zusammen.
Mit der zunehmenden Industrialisierung seit dem 18. Jahrhundert wurden die Alpen und der Alpstein als Ort der Erholung entdeckt. Davor galten die Berge als schrecklich und furchterregend. Diese Vorstellung wurde von römischen Schriftstellern literarisch verbreitet und beherrschte die europäische Kulturgeschichte bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts.
Danach wurden die Alpen und zunehmend auch der Alpstein nicht mehr gemieden, sondern von Europareisenden und Stadtbürgern aufgesucht und bestiegen.
Die Einheimischen standen diesem Interesse an der Bergwelt anfänglich verständnislos gegenüber, merkten aber bald, dass sich damit Geschäfte machen liessen. Die fremden Gäste unternahmen Ausflüge in die Berge, so auch in den Alpstein.
Davon zeugen nebst den Bildern der Bauernmaler, auf denen Ausflügler zu erkennen sind, auch die von Kleinmeistern geschaffenen Darstellungen der Plätze, die von Fremden mit Vorliebe besucht wurden.
Dazu gehörten das Wildkirchli ebenso wie eine Alphütte. Der Besuch einer echten Alphütte, das Zuschauen beim Käsen und ein Gespräch mit den Sennen gehörten zum Programm einer Schweizer Reise wie der Besuch des Rheinfalls.
Mit der Erfindung des maschinellen Druckverfahrens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte die Massenproduktion solcher Ansichten. Die Bilder konnten als Erinnerung gekauft werden und wurden zu beliebten Souvenirartikeln der Schweiz- und Appenzellreisenden.
Idealisierung der Berge und ihrer Bewohner
Werbeträger für die Alpenwelt und deren Bewohner waren auch die Reiseschriftsteller. Für das Appenzellerland ist der 1764 in Schlesien geborene und 1830 in Zürich verstorbene Doktor der Medizin Johann Gottfried Ebel zu erwähnen. Er durchwanderte während zwei Jahren die ganze Schweiz.
Ebel beschäftigte sich kritisch mit den feudalen Zuständen jener Zeit und setzte grosse Hoffnungen in die Französische Revolution. Doch er wurde durch die Pariser Zustände enttäuscht.
In Briefen warnte er fortan einflussreiche Schweizer vor dem Imperialismus der Republik. In diesem Geist ist auch sein Werk «Schilderung der Gebirgsvölker der Schweitz» zu sehen (siehe dazu die von Peter Faessler 1983 kommentierte Neuedition).
Er bereiste Glarus und das Appenzellerland und bewunderte beim «appenzellischen Hirtenvolk die Züge gesunden Verstandes, und richtigen Gefühls […] dieser unverkrüppelten Natursöhne» und glaubte bei ihnen zu finden, «was sich so schwer zu vereinigen scheint: einfache Sitten, wahre Humanität ungekünstelter Natur, gesunde Vernunft, Derbheit des Charakters, Geradheit der Seele, und gedrungene Treuherzigkeit».
Reformen hätten sich an diesen kleinen Gebirgskantonen zu orientieren.
Seine Schriften trugen zu einer übersteigerten und realitätsfremden Idealisierung der Alpenlandschaft und ihrer Bewohner bei. Sie zeigten in Bezug auf den lukrativen Fremdenverkehr Wirkung, so stark, dass Merkmale eines frühen Overtourism zu erkennen sind.
In der amüsant zu lesenden Satire des Winterthurers Ulrich Hegner (1759–1840) beschreibt dieser die Folgen der Flut von Prospekten und Ansichten der «berühmten und begafften Stellen» seiner Heimat.
Es gebe kaum mehr einen Flecken, wo nicht ein «Prospektmacher oder sein Kramladen» zu finden sei. Die Fremdenverkehrsorte würden allein des Geldgeschäfts wegen verschandelt.
Welche ungeahnten Folgen positive Werbung für einen Ort heute haben kann, zeigt sich am Äscher. 2015 bildete eine Ausgabe des «National Geographic» mit dem Titel «Places of a Lifetime. 225 Dream Destinations around the World» auf dem Cover das Bergrestaurant in der Felswand ab. Der Äscher gehört heute zu den Reisezielen wie das Matterhorn, bestätigt die Pächterin.
Overtourism ist bei beiden Destinationen nicht erst seit heute ein Thema.