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31.08.2025

Der Fall Erich Schlatter

Rund 15 Jahre schaute er als Redaktor und Co-Chefredaktor der Schaffhauser AZ hinter die Vorhänge und brachte so manche Story ins Rampenlicht. Mit «Gegenterror» veröffentlichte er ein Buch über eine lokale «Berühmtheit» mit zweifelhaftem Ruf.
Rund 15 Jahre schaute er als Redaktor und Co-Chefredaktor der Schaffhauser AZ hinter die Vorhänge und brachte so manche Story ins Rampenlicht. Mit «Gegenterror» veröffentlichte er ein Buch über eine lokale «Berühmtheit» mit zweifelhaftem Ruf. Bild: Sandro Zoller, Schaffhausen24
Er nannte die Schweiz einen faschistischen Drecksstaat, führte eine Todesliste, verschmierte Wände mit seinen Slogans und konnte handgreiflich werden.

Erich Schlatter war aber auch charmant, charismatisch und gewann damit immer wieder einflussreiche Persönlichkeiten für sich. Journalist Marlon Rusch schrieb ein Buch über den Schaffhauser Systemsprenger.

«Immer wieder habe ich über Personen geschrieben, die psychisch krank sind, sich am Rand der Gsellschaft bewegen und anecken. Die mit Abstand schillerndste Figur ist Erich Schlatter, den eine Zeit lang wahrscheinlich alle in Schaffhausen gekannt haben», erzählt der ehemalige Schaffhauser AZ Co-Chefredaktor und Autor Marlon Rusch im Gespräch mit dem «Bock». Schon nach der Kantonsschule, im Jahr 2006, habe der unterdessen 38-jährige Journalist bei der AZ erste Kulturvorschauen verfassen dürfen. Was er eigentlich einmal werden will, war aber zu dieser Zeit noch nicht klar. Er schrieb sich zwar in den Studiengang Geschichte ein, aber mehr aus Verlegenheit. Die Leidenschaft für das Geschichtenerzählen zog ihn immer mehr in den Journalismus hinein. In der AZ fand er eine Heimat. So entschied sich Rusch am Medienausbildungszentrum (MAZ) eine Journalistenausbildung zu absolvieren. Anschliessend fand er bei der «Schweiz am Sonntag» in Basel eine Anstellung – als Stellvertretung. «Es zeichnete sich bei der Schaffhauser AZ ein Generationenwechsel ab. Das Team sollte aus- und umgebaut werden. Ich wurde angefragt, ob ich, zusammen mit Freunden vom ‹Lappi›, die Leitung übernehmen möchte.» Zu dieser Zeit brachte er mit «Mitstreitern» ein kleines verspieltes Schaffhauser Kulturmagazin namens «Lappi» heraus, worin er die journalistischen Grenzen ausloten konnte. 

2016 erfanden sie die AZ neu und legten den Fokus auf investigativen Journalismus sowie Gesellschaftsreportagen. «Es funktionierte. Das war an den steigenden Abozahlen zu erkennen, die sich Jahrzehnte lang auf einer Talfahrt befanden.» 

Mittlerweile arbeitet Marlon Rusch in der Schweizer Redaktion der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» 

Zwischen Genie und Wahnsinn

«Kochen verblödet – Kochen tötet – Kochen macht süchtig und krank – Milchprodukte auch – Brot sowieso» schrieb Erich Schlatter einst neben den Eingang zur Migros in der Vorstadt. Von solchen «Schriften» gab es in den Neunzigerjahren viele in der Stadt. Diese zeigten eine kuriose und zum Schmunzeln bringende Seite des weitherum bekannten Stadtoriginals. Eine andere Seite von Schlatter hingegen irritierte die Menschen stark – milde ausgedrückt. Denn er führte gar eine Todesliste namens «Rohe Weihnachten» und war der Auffassung, dass es erst wieder eine «Frohe Weihnacht» gibt, wenn alle aufgelisteten Personen totgeschlagen oder gehenkt wurden. Daniel Jenne, damaliger Leiter des Strafverkehrsamts, und Oskar Wanner, damaliger Leiter der Klinik Breitenau, prangerten am sichtbarsten darauf. 

«Es ist nicht einfach, mit Sicherheit zu diagnostizieren, auf welche Störung das offensichtlich krankhafte Verhalten des Patienten zurückgeht.»
Oscar Wanner, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Breitenau

«Die Leute wussten irgendwann nicht mehr, ob Erich Schlatter hochgefährlich ist und bald einmal austickt», so Rusch. Der Buchautor selbst sei Schlatter als Kind das erste Mal begegnet. Das habe ihn geprägt. Danach sei ihm klar geworden, dass die Welt nicht ganz so heil ist, wie er bis anhin glaubte.

Erich Schlatter verbrachte einen Teil seiner Kindheit im Indien der Fünfzigerjahre. Schon mit 15 Jahren wurde in der Schweiz erstmals Schizophrenie diagnostiziert. Dann kam er unter den Einfluss eines Sekten-Gurus. «Erich Schlatter fing damit an, gemäss den Praktiken des Gurus, Fisch, Fleisch, exotische Früchte und Gemüse nur noch roh zu essen und an Wartehäuschen für Busse seinen Slogan ‹Kochen tötet› hinzuschreiben», erklärt der Schaffhauser Journalist. Schlatters Theorie habe besagt, dass gekochte Nahrungsmittel Gift für den Körper seien. Die Rohkost wurde mit der Zeit zu einer heiligen Mission. Er sei oft barfuss und mit viel zu kurzen Hosen herumgelaufen und habe unter anderem exotische Früchte, wie die Durian, in einem Köfferchen mitgeführt und diese neugierigen Passanten präsentiert und geraten, sich wie die Affen zu ernähren. «Ja, Schlatter wies avantgardistische Züge auf.» 

Je älter der Systemsprenger wurde, desto mehr habe er angeeckt und sei zu einem echten Problem geworden, erklärt Marlon Rusch: «Gleichzeitig schaffte er es, aufgrund seines starken Charismas, einflussreiche Leute, wie Psychiater, Rechtsanwälte und Stadträte, für sich zu gewinnen.» Rusch habe selbst bei Besuchen, während der Recherche, diesen Sog spüren können.

Tödlicher Charme

Nach einer Flucht aus der Psychiatrieklinik suchte Schlatter in Frankreich und Spanien Unterschlupf und schlug sich als Obdachloser durch. Zuletzt hauste er in einem Mandarinenhain bei Valencia. Während seiner Zeit ohne Haus und Dach wurden ihm mehrmals Zähne ausgeschlagen und die Polizei ging auch nicht gerade zimperlich mit ihm um, da sie irgendwann wegen seinem Verhalten die Nerven verlor. 2007 verkündeten Schweizer Medien, dass bei Valencia, Spanien, ein Mann tot aufgefunden wurde und Erich Schlatter der Hauptverdächtige ist. Die Indizien hätten eine relativ klare Sprache gesprochen. Dennoch sei der Schaffhauser «Querulant» in Spanien nie rechtskräftig verurteilt, sondern nur des Landes verwiesen worden.

«Schlatter war sehr lustig, unterhaltsam und angenehm – solange er sich nicht in eine Ecke gedrängt fühlte. Aber um sich Gehör zu verschaffen, sah er auch in Handgreiflichkeiten ein profanes Mittel dafür», erklärt der Autor von «Gegenterror».

Einige Millionen Franken wurden für Erich Schlatters Verfahren, Klinik- und Gefängnisaufenthalte aufgewendet – mehr als für den Fall Carlos.

«Als Erich Schlatter einst ein Haus in der Altstadt besass, wollte er bis Rom einen Tunnel bauen, damit der Past zu ihm kommen kann.»
Marlon Rusch, Journalist und Autor

Berg an Akten durchgeackert

Der Journalist hat nicht viel Verwertbares aus den Treffen mit Erich Schlatter mitnehmen können. Denn seit zehn Jahren sei dieser verwahrt und unterdessen ein wenig dement. Eine Selbstreflexion sei auch aufgrund der jahrzehntelangen psychischen Krankheit nicht mehr möglich. Nichtsdestotrotz habe Rusch den Kontakt unter anderem zu Schlatter benötigt, um die Einwilligung zur Einsicht in die Akten zu erhalten. «Der Stapel an Papier den ich vorfand, war grösser als ich», so Marlon Rusch. Er habe sich bei seiner Recherche dennoch nicht ausschliesslich auf amtliche Unterlagen stützen wollen. Er habe deshalb Beobachter und ehemalige Weggefährten des Schaffhauser Stadtoriginals aufgesucht. «So führte eines zum anderen bis ich die Figur Schlatter von allen Seiten vielschichtig beleuchten konnte», so Marlon Rusch.

Erich Schlatter rückt am 23. September ein weiteres Mal ins Licht der Öffentlichkeit. Das Obergericht muss entscheiden, ob die Massnahmen mit dem geschlossenen Heim gerechtfertigt sind, oder er auf freien Fuss gelassen werden muss. 

Das Buch kann im Meetingpoint erworben werden.

Erich Schlatters Welt stand teilweise kopfüber. Und so sind auch die Zitate über ihn zu lesen. Bild: Sandro Zoller, Schaffhausen24

Literarische Verlosung

Der «Bock» und schaffhausen24.ch verlosen 2 Exemplare des Buches «gegenterror» von Marlon Rusch.

Teilnahme: Senden Sie eine E-Mail, mit dem Betreff «Buchverlosung gegenterror», an wettbewerb@bockonline.ch. 

Teilnahmeschluss: Donnerstag, 28. August, 12 Uhr.

Sandro Zoller, Schaffhausen24 / Toggenburg24