Der Mathematiker Eduard Stiefel (1909-1978) ist fasziniert. Die frühen Rechenautomaten haben es ihm angetan. Als Gründer des Instituts für angewandte Mathematik an der Eidgenössischen Hochschule in Zürich (ETH) beschäftigt er sich intensiv mit Computern. Er sieht ihren Einsatzzweck in nach dem Zweiten Weltkrieg der boomenden Maschinenindustrie.
Ende der 1940er-Jahre hört er von einem deutschen Computerpionier namens Konrad Zuse. Zusammen mit seinem Kollegen Max Lattmann (1910-2011) fährt er im Jahr 1949 nach Deutschland, um sich mit ihm zu treffen, und ist verblüfft: Im Keller des Mehllagers einer Bäckerei in Hopferau im Allgäu zeigt ihnen Zuse seinen Computer «Z4», den er in einer Nacht- und Nebelaktion mit Bahn und Lastwagen vor den Alliierten in Sicherheit gebracht hat.
Stiefel zögert nicht. Er erkennt die Bedeutung der Rechenmaschine für die Bearbeitung von Problemstellungen in der angewandten Mathematik. Für insgesamt 30'000 CHF mietet er kurzerhand die «Z4» und nimmt sie für vier Jahre mit nach Zürich. Obwohl sie laut ist, über eine Tonne wiegt und ständig repariert werden muss, wird sie in den 1950er-Jahren in diversen Aufgabengebieten eingesetzt, beispielsweise in der Berechnung der Flugbahnen von Geschossen, in der Theorie der Quantenmechanik oder zum Austarieren von Schwingungen einer Lokomotive.
Von Beginn an ist der Einsatz der «Z4» aber als Übergangslösung gedacht. Die ETH will ihren eigenen Computer. Stiefel geht zusammen mit zwei seiner Mitarbeiter – dem Elektroingenieur Ambros Speiser (1922-2003) und dem Mathematiker Heinz Rutishauser (1918-1970) – bereits im Jahr 1949 in die USA. Sie treffen dort die Pioniere der Computertechnik, unter anderem John von Neumann höchstpersönlich. Ihre Mission ist die Aneignung von Computerwissen. Zurück in der Schweiz entsteht unter der Leitung Stiefels zwischen 1953 und 1956 der erste programmierbare Röhrenrechner der Schweiz, die «Elektronische Rechenmaschine der ETH», kurz «ERMETH».
In ihrer Entwicklung läuft alles schief, was schieflaufen kann: Lieferschwierigkeiten von Komponenten, Hersteller, die vorzeitig vom Vertrag zurücktreten, der Abgang von Personal und nicht zuletzt die ständig steigenden Kosten plagen Stiefel und sein Team. Mehrmals droht das Projekt zu scheitern. Mit Verzögerung nimmt die ERMETH dann ab 1956 schrittweise den Betrieb auf und wird bis 1963 genutzt. Heute steht sie im Museum für Kommunikation in Bern.
Die ETH bleibt weiterhin in der noch jungen Informatik tätig und forscht unter anderem in der Entwicklung von Programmiersprachen – aber sie wird sich nicht mehr in grossem Masse im Bau von Computern engagieren. Damit ist sie nicht allein. Die Schweiz zeigt wenig Interesse an Computern und Computertechnik. Das Beispiel ERMETH mag abschreckend gewirkt haben, deren Erfinder finden keine Anstellung und gehen ins Ausland, und mit ihnen das Know-how.
Grossflächig eingesetzt werden Computer ab den 1960er-Jahren in Einzelfällen bei Banken, Versicherungen, der Swissair und der PTT. Zum Einsatz kommen aber ausländische Fabrikate: veraltete Lochkartenmaschinen oder Modelle von IBM oder Sperry Rand (UNIVAC). Berühmtheit erlangen vor allem die IBM Grossrechner (Mainframes) Systeme 1401 und 7070 aus dem Jahr 1960 und der IBM 5150 (IBM-PC) vom August 1981.
Damit steht endgültig fest: Die Schweiz setzt auf amerikanische Computersysteme, später auf japanische. Mit dem Aufschwung der 1950er-Jahre und dem grossen Wirtschaftswachstum sind die immer noch überall eingesetzten Lochkartensysteme aber nicht mehr ausreichend. Die Magnetband-Technologie hält Einzug und lässt die Effizienz explodieren. Zum Vergleich: So passen die Informationen von 50'000 Lochkarten auf ein Magnetband; in 150 Millisekunden werden von einer Lochkarte 80 Zeichen gelesen, von einem Magnetband über 10'000.
Von diesem technologischen Fortschritt erhofft man sich eine Beschleunigung im Büroalltag, die Bewältigung immer steigender Arbeitsbelastung und die Einsparung von Personal. Die Politik fördert die technische Aufrüstung. Seit Anfang der 1960er-Jahre häuft sich die Kritik an der Bundesverwaltung: zu teuer, zu starr, zu bürokratisch. Die Lösung wird im Einsatz von Computern gesucht.
Erstes Anwendungsgebiet soll die Volkszählung von 1960 werden. Die Anschaffung der Technik lässt sich einfacher bewerkstelligen als die organisatorischen Veränderungen, die einen effizienten Einsatz bedingen. Der Bund gründet eine Koordinationsstelle, welche die Übertragung von analogen zu digitalen Prozessen untersuchen und umsetzen soll – mit mässigem Erfolg.
Von Lochkarten zur «EDV» – ein Computer für die Stadt St.Gallen
Die technischen Entwicklungen in der Computerindustrie aus den USA und Japan machen Eindruck. Sie verheissen eine effizientere und kostengünstigere Arbeitsweise, im Besonderen auch für die Kantone und Gemeinden. Die erste Welle der Computerisierung beginnt in der Stadt St.Gallen im Jahr 1949. Es wird eine IBM-Lochkartenmaschine für die «Finanzverwaltung» für CHF 29'500 im Jahr gemietet. Sie wird im Rathaus aufgebaut und in den Bereichen «Steueramt», «Gemeindekrankenasse» und im «Lohnbüro» eingesetzt.
Zwei Jahre später wird ein zweites Modell für kleinere Aufgaben im Bereich «Technische Betriebe» angeschafft. Im Jahr 1961 sollen die Anlagen ausgebaut werden: In einer Volksabstimmung wird ein Kredit von ungefähr CHF 3.5 Millionen angenommen.
Wiederum ein Jahr später dann der grosse Sprung nach vorne: Die Lochkartensysteme sollen durch die «Elektronische Datenverarbeitung» (EDV) ersetzt werden. Technikaffine, städtische Beamte erhalten die Möglichkeit, einen Einführungskurs bei der IBM zu absolvieren. Zu ihnen gehören Hans Vetsch (späterer Leiter IDS), Albert Häne (Leiter der Lochkartenanlagen), Walter Gabathuler und Kaspar Schmid. Im Hotel «Strohlhof» in Zürich lernen sie in drei Wochen die wichtigsten Grundlagen. Danach machen sie sich daran, das englische Benutzerhandbuch ins Deutsche zu übertragen.
Vieles ist noch unklar, in zahlreichen Diskussionen eignet man sich Spezialwissen an. Ein zentrales Aufgabengebiet für die Einführung der EDV betrifft die städtische Einwohnerkontrolle. Aber auch andere Konzepte werden erarbeitet und erste kleine Programme geschrieben, unter anderem in den Bereichen Energieverrechnung, Steuerrückzahlungen oder Zahlungsanweisungen.
Dann die Entscheidung: Nach einer Evaluation geht man bei der Anschaffung des Grossrechners keine Risiken ein. Am 4. November 1962 folgt die erfolgreiche Gemeindeabstimmung und der Computer «IBM1410» – ein internationaler Bestseller im noch jungen Computermarkt – wird für den Kauf freigegeben. Er kostet knapp über vier Millionen Schweizer Franken, dazu kommen eine halbe Million Einrichtungskosten.
Die Hoffnung ruht auf einer Effizienz- und Qualitätssteigerung bei gleichzeitig sinkenden Kosten. Die Kosten der EDV, so die Analyse, steigen bedeutend weniger stark als die von Personal. Gleichzeitig wird die Stadt ein Mitglied in der schweizweit agierenden «EDV-Arbeitsgemeinschaft öffentlicher Verwaltungen», um Erfahrungen auszutauschen.
Bis zur Installation des Rechners dauert es aber. Um die Zeit zu überbrücken, testen die Programmierer ihre Programme an einer grossen IBM-Anlage in Sindelfingen bei Stuttgart. Am Sonntagnachmittag fahren sie los, ihre Programmkarten und -ordner im Kofferraum. Vor Ort bekommen sie bestimmte Zeitfenster, um zu testen. Danach geht es zurück nach St.Gallen. Dazwischen viel Arbeit und viel Überzeit – Vetsch geht selten vor 22 Uhr nach Hause.
Im November 1963 wird endlich der IBM-Rechner im Rathaus installiert. In nächster Zeit werden über 150'000 Lochkarten für die Steuerabschlüsse ins System eingelesen, eine Mammutaufgabe! Aufgrund von Lesefehlern müssen viele Prozesse wiederholt werden. Im April 1964 können aber die Steuerrechnungen zum ersten Mal komplett per Computer mit selbstgeschriebenen Programmen erstellt werden. Neben dem eigentlichen Grossrechner sind auch eine Sortiermaschine «IBM 063», ein «Kartenmischer IBM 088» und ein «Interpreter IBM 557» im Einsatz. Unverzichtbar sind nach wie vor die Schreibmaschine vom Typ «HERMES 8» und die Rechnungsmaschine «PRECISA».
Die EDV der Stadt kommt ins Rollen. Es wird eine neue Dienststelle für Organisation (DfO) gegründet und so die Computerprogrammierung aus der Finanzkontrolle ausgelagert. Eine Dokumentation, die unter anderem das Organisationsschema, ein Pflichtenheft und sämtliche Programmierunterlagen enthält, wird angelegt. In den nächsten Jahren wird so der IBM-Rechner für verschiedene Aufgaben genutzt. Er findet Einsatzgebiete in der Einwohnerkontrolle, bei Abstimmungen, im Steuerarmt, im Lohnwesen oder bei der Strom- resp. Gasverrechnung.
Im Jahr 1966 wird die Einführung der EDV in einem Untersuchungsbericht positiv beurteilt: die Effizienzsteigerung im Besonderen wird hervorgehoben. Bereits im Jahr 1971 können eine Vielzahl von Aufgaben mit der EDV erledigt werden. So werden unter anderem die Daten zu den städtischen Einwohnerinnen und Einwohnern auf Magnetbändern gespeichert, Statistiken unterschiedlicher Dienststellen oder die Auszahlung von Löhnen im Finanzamt maschinell abgewickelt.
Lesen Sie morgen im 5. Teil: «EDV» als Dienstleistung – Die Gründung der «VRSG».