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14.09.2025

Wenn Geschichte plötzlich Gegenwart wird

Die «Nogaische Steppe», Stielers Handatlas, 1855
Die «Nogaische Steppe», Stielers Handatlas, 1855 Bild: Archiv
Alt-Stadtarchivar Ernst Ziegler zeigt anhand der Reiseberichte des St.Galler Kaufmanns Daniel Schlatter (1791–1870), dem «Tataren-Schlatter», wie vertraut uns viele Ortsnamen und Schauplätze heute erscheinen. Was Schlatter einst im «südlichen Rußland» erlebte, taucht nun täglich in den Schlagzeilen des Krieges in der Ukraine auf.

Zu den Kostbarkeiten meiner Büchersammlung gehört ein 1830 in St.Gallen erschienener, über 500 Druckseiten umfassender illustrierter Band mit dem Titel «Bruchstücke aus einigen Reisen nach dem südlichen Ruβland, in den Jahren 1822 bis 1828, mit besonderer Rücksicht auf die Nogayen-Tataren am Asowschen Meere».

Der Verfasser dieses Werkes war Daniel Schlatter (1791–1870). Er widmete es im August 1829 «dem Tataren Ali-Ametow und dessen Sohn Abdullah zu dankbarem Andenken».

Daniel Schlatter als junger Mann, gezeichnet von Daniel Ehrenzeller 1822 Bild: Archiv

Nachdem ich mich 2001 mit Daniel Schlatter und dessen drei zwischen 1822 und 1828 ins «südliche Ruβland» unternommenen Reisen näher befasst (und diese in Auszügen auf stgallen24 veröffentlicht) hatte, erinnerte ich mich im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen verheerenden Krieg gegen die Ukraine wieder an dessen Aufzeichnungen. 

Schlatter reiste u.a. über St. Petersburg und Moskau nach «Neu-Ruβland», durch Galizien, zu dieser Zeit ein österreichisches Kronland, durch die Ukraine, damals Grenzland «im moskauischen Reich und ehemaligen Königreich Polen», zu den am Asowschen und am Schwarzen Meer sowie auf der Krim siedelnden Tataren.

Geografie und heutige Bezüge

Mit dem Ausdruck «südliches Ruβland» bezeichnete Schlatter jenes weite Land zwischen Dnjestr und Dnjepr sowie zwischen Donez und Don, zwischen Odessa und Cherson bis Donezk, Bachmut und Lugansk sowie von Charkow und Poltawa bis einschliesslich der «Nogaischen Steppe», der Krim und dem Asowschen Meer.

Diese und andere Namen hören und lesen wir täglich im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Als sich Schlatter in diesen Gegenden aufhielt, war die heutige Ukraine zu grossen Teilen ein blühendes Land.

Nogayen-Tataren mit Pferd, um 1822 Bild: Archiv

In Schlatters Reisebeschreibungen finden sich Stellen, die einen Bezug zur Geschichte unserer Zeit aufweisen. Ein Beispiel aus der dritten Reise mag das belegen. Auf dieser Reise ging es aus der Schweiz über London, Brüssel, Kassel, Berlin und Danzig nach Warschau, wo Schlatter dem Grossfürsten Konstantin Pawlowitsch (1779–1831) begegnete, dem Vizekönig in Polen und Generalissimus der polnischen Truppen.

Von Warschau aus fuhr er in einem «guten Postwagen» nach Lublin, dem «polnischen Jerusalem», und über die «sehr gut unterhaltene schöne Festung» Zamosc nach Belzec «auf der Gränze zu Galizien». Dieser Ort bestand damals, wie Schlatter schreibt, «nur aus einigen Zollhäusern und einem jüdischen Wirthshause».

Belzec und die «Aktion Reinhardt»

Unter dem Tarnnamen «Aktion Reinhardt» wurden 1942 im von Deutschland besetzten Polen, im sogenannten Generalgouvernement, die drei Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka eingerichtet. Sie dienten, im Gegensatz zu Auschwitz mit seinen Sklavenbetrieben, einzig zur Tötung, lagen weit im Osten in spärlich besiedeltem Gebiet und hatten Eisenbahnanschluss.

In diesen Todesfabriken wurden bis Ende 1943 etwa 1,8 Millionen Juden und rund 50'000 damals sogenannte «Zigeuner» (Eugen Kogon) systematisch ermordet.

Reisewagen in der südrussischen Steppe. Die Erde in Karten und Bildern, 1889 Bild: Archiv

Namensgeber dieser «Aktion» war Reinhard Heydrich (1904–1942) mit dem Titel «Beauftragter für die Endlösung der europäischen Judenfrage», SS-Obergruppenführer und General der Polizei. Dessen Witwe Lina Heydrich-von Osten (1911–1985) war eine «überzeugte Nationalsozialistin und glühende Antisemitin», welche die ihr zur Verfügung gestellten jüdischen Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge miserabel behandelte.

Ihr wurde 1958 vom Landessozialgericht Schleswig eine grosszügige Witwenrente von 1000 DM monatlich zuerkannt, die «volle Pension des verstorbenen Reichsprotektors»!

Pollacks «kontaminierte Landschaften»

Martin Pollack (1944–2025), dem wir unvergessene Bücher über Galizien verdanken, veröffentlichte 2014 das den Leser belastende, kaum zu ertragende Werk «Kontaminierte Landschaften». Zu dieser «verseuchten» Landschaft gehört Belzec.

Blick nach der Zerstörung des Vernichtungslagers Belzec 1944 auf einen Eisenbahnschuppen, in dem die Habseligkeiten der Opfer gelagert wurden Bild: Institute of Contemporary History & Wiener Library Limited

Über diesen Ort heisst es bei Pollack: «Wir fuhren mit dem Zug von Warschau bis zur ukrainischen Grenze. Kurz vor der Grenzstation passierten wir Belzec, einen kleinen, unscheinbaren Ort mit einem grossen, schrecklichen Namen. In Belzec hatten die Deutschen (und Österreicher) während des Zweiten Weltkriegs das erste von insgesamt drei Vernichtungslagern der sogenannten 'Aktion Reinhard' eingerichtet, in dem im Jahre 1942 Hunderttausende Menschen, vorwiegend Juden, aber auch Roma und sowjetische Kriegsgefangene, ermordet wurden.

Hier wurde die industriell organisierte Massentötung erprobt, in eigens dafür konstruierten Gaskammern, die später in Auschwitz und anderen Todeslagern bis zur Perfektion entwickelt werden sollten.

Die Toten wurden anfangs in Gruben geworfen und mit Beton übergossen, doch die Verwesungsgase sprengten die improvisierten Grabplatten, sodass die Deutschen sich gezwungen sahen, die Leichen mit Baggern und Kränen aus dem Boden zu holen, um sie auf riesigen, aus Eisenbahnschienen errichteten Rosten zu verbrennen. Das dauerte monatelang.

SS-Angehörige vor dem Wohn- und Arbeitsgebäude des Belzec-Lagerkommandanten Christian Wirth Bild: Staatsarchiv München

Die Bewohner der umliegenden Dörfer berichteten später, die ganze Gegend sei ständig in dichten, gelblichen, übelriechenden Rauch gehüllt gewesen, der alle Fenster mit einer fettigen Schicht überzog.

Dieses Detail war in Erzählungen immer wieder zu hören: Die Frauen hätten die Fensterritzen mit Tüchern abgedichtet, wie im Winter, und die Scheiben fast täglich gewaschen, um sie notdürftig sauber zu bekommen. Die versengten Haare der Toten wurden vom Wind kilometerweit geweht.»

In diesem «Todeslager» wurde vermutlich der aus Berlin stammende Dichter Hans Davidsohn (1887–1942) ermordet. Unter dem Pseudonym Jakob van Hoddis hatte er 1911 sein Gedicht «Weltende» veröffentlicht.

Rappaport und die Philosophie

In Belzec wurde 1943 auch der Rabbiner Samuel Rappaport ermordet. Geboren 1871 als Sohn Salomon Rappaports und Chaja Itta Goldsterns, besuchte er in Brody das K. K. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium und studierte danach in Berlin, wo er auch das Rabbinerseminar besuchte.

Zwangsarbeiter im Lager Belzec beim Bau von Befestigungsanlagen Bild: Zeszyty Majdanka, Band 3

Mit einer Dissertation über «Spinoza und Schopenhauer» wurde er 1899 an der Universität Halle-Wittenberg zum Doktor der Philosophie promoviert. Später kehrte er nach Galizien zurück, wo er bei Zolociv, zwischen Lemberg und Brody, «ein Landgut bewirtschaftete».

Für meine Arbeit über «Schopenhauer und Spinoza» studierte ich Rappaports Dissertation, in welcher der Autor den «Einfluss Spinozas auf Schopenhauer» gründlich erörtert. Wie intensiv sich Arthur Schopenhauer (1788–1860) mit dem jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677) befasst hat, habe ich in meiner Arbeit dargelegt.

Brockdorff und das Dritte Reich

Hier sei noch eine merkwürdige Koinzidenz erwähnt: Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Rappaports «kritisch-historischer Untersuchung», im Jahre 1901, veröffentlichte der deutsche Philosoph und Soziologe Cay Ludwig Georg Konrad Baron von Brockdorff (1874–1946) seine «Beiträge über das Verhältnis Schopenhauers zu Spinoza».

Die Standorte der Vernichtungslager in Polen Bild: dpa

Brockdorff erwähnt darin das «Buch von Dr. Samuel Rappaport», zitiert aus ihm eine «Reihe von Aussprüchen» und kritisiert seinen Kollegen verschiedentlich.

Die Begegnung mit dem Rabbiner und dem Baron im Zusammenhang mit meiner Beschäftigung mit Spinoza und Schopenhauer war für mich als «Kärrner der Philosophie» auch aus historischer Sicht von Bedeutung.

Der Rabbiner wurde im Konzentrationslager Belzec umgebracht, der Baron war ein evangelisch-lutherischer Christ und vertrat die Philosophie als Professor an der Universität Kiel. 1933 trat er der NSDAP bei, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, und wurde 1934 Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. Brockdorff starb 1946 in Kiel.

Ernst Ziegler, ehem. St.Galler Stadtarchivar