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23.11.2020

Der letzte Zeuge

Rabbiner Hermann Schmelzer (1932-2020)
Rabbiner Hermann Schmelzer (1932-2020) Bild: PD
St. Galler Rabbiner Hermann Schmelzer starb am 14. November 2020.

Mit dem Tod des ehemaligen St. Galler Rabbiners Hermann Schmelzer am 14. November verliert die Schweiz einen seiner bedeutendsten rabbinischen Gelehrten und jüdischen Humanisten.

Woche für Woche bestieg Hermann Schmelzer den Zug von St. Gallen nach Zürich. Dort studierte er jeweils am Mittwoch in der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) jüdische Philosophie, Geschichte, Literatur, Sachbücher, alte Schriften. Schmelzers Kosmos ragte weit über die rabbinische Literatur in die jüdische, wissenschaftliche, säkulare hinaus. Die wöchentliche Reise zu Büchern, war auch eine Reise in seine Jugend – zum Rabbinerseminar von Budapest. Dieses hat ihn geprägt in seinem Denken und ihm Zugang zum Verständnis des Judentums in Abgrenzung zur Orthodoxie und eben auch zur Neologie verschafft. Diesen Zugang zum Judentum beschrieb er einst so: «Wenn ich von der Thora spreche, dann denke ich an die Totalität des Judentums. Halacha, Haggada, Poesie, Philosophie, Mystik und auch die moderne zionistische Bewegung, die verschiedenen religiösen Strömungen sind alle aufeinander bezogen.»

Europäer machen in Israel eine Schnellausbildung

Sein Weg war einer der Mitte, der in die Moderne führte. Doch es war ein einsamer Weg, umgeben von neuen Generationen Rabbinern ohne diese Dialektik zwischen Judentümern, Religion, Kultur, Akademie. Schmelzer kam schliesslich aus einer der jüdischen Metropolen letztlich in eine Art jüdische Provinz. Ungarn war zentral für die jüdischen Moderne, für den Aufbruch und die Haskala. In einem Gespräch konstatierte Schmelzer denn auch: «Früher gab es in der Schweiz viele akademisch gebildete Rabbiner. Danach folgte ein epochaler Wandel. Heute haben sich wahrscheinlich die Bedürfnisse und Ansprüche geändert. Die Gemeinden fühlen sich schon fast gezwungen, oft völlig unbekannte Rabbiner aus Israel zu holen, deren zuweilen fehlendes Verständnis für die europäischen Gegebenheiten problematisch werden kann. Es gibt auch Europäer, die in Israel eine Schnellausbildung bis zur israelischen rabbinischen Autorisation machen. Für viele Gemeinden, die von der Organisation her zwar halachisch, aber vom Inhalt her eklektisch bis häretisch sind, ist dies schwierig.» Das Budapester Rabbinerseminar gibt es heute noch. Doch die grosse prägende Zeit für das europäische Judentum, der wichtigen Seminare von Wien bis Berlin, liegt weit zurück, und so wurden auch die Gesprächspartner auf Augenhöhe für Schmelzer immer weniger. Zusehends wurde es ein inneres Gespräch, das Studium in die Lektüre der Bücher oder vielfach dann auch mit Geistlichen anderer Religionen.

Akademie und Judentum

1932 in Ungarn geboren, überlebte er den Nationalsozialismus, erlebte er den Kommunismus, den er in einer frühen Schrift «die schlimmste Erfahrung» nannte. Schmelzer absolvierte die Landesrabbinerschule in Budapest und die Ecole centrale rabbinique de France in Paris. 1958 wurde er als Religionslehrer nach Stockholm berufen, studierte später in London. Zweimal machte er den Versuch, in Israel zu leben, und ging wieder zurück nach Europa. Ein bewusster Entscheid des Schicksals, wie er in späteren Gesprächen ausführte. Im Jahre 1962 erhielt Hermann Schmelzer seine Ordination als Rabbiner im schwedischen Malmö. 1968 wurde er nach St. Gallen berufen als Nachfolger von Lothar Rothschild.

Rabbiner Schmelzer argumentierte klar und bescheiden, sprach poetisch und verständlich, handelte empathisch und menschlich. Er verband die jüdische und die akademische Lehre, führte Judentum zu Gemeindemitgliedern und nicht umgekehrt. Die Dinge, die er sagte, hatten immer eine zweite Ebene. Doch man musste genau hinhören oder genau lesen: Der Rabbiner sprach in so klaren Aussagen Menschen und Intellekt gleich doppelt an. So hatte jeder Satz immer noch eine zusätzliche Bedeutung, vermittelt in einer so wunderbaren klaren, direkten, aber nicht angreifenden Sprache. Die deutsche Sprache, die für ihn nur die zweite und für die Zuhörer eine so sanfte, ergreifende war.

Osteuropa und Ostschweiz

Schmelzer war Rabbiner der Ostschweiz schlechthin, prägte die Jüdische Gemeinde St. Gallen, hob den «minhag hamakom», den Brauch des Ortes, hoch. Wie keiner sonst beschritt er seinen eigenen Weg für die Gemeinde und liess sich nicht von aussen oder gar dem israelischen Oberrabbinat Judentum diktieren. Das «bet din», das jüdische Gericht, mied er – Übertritte vermied er nicht aus Prinzip, sondern Respekt, in die Politik mischte er sich nicht ein und liess allen ihre Freiheit: «Meine Auffassung ist, dass man als Rabbiner die Gemeinde nicht für oder gegen eine bestimmte politische Richtung bewegen soll. Aber der Rabbiner sollte auf das reagieren, was in der Gemeinde oder der Stadt politisch stattfindet.» Und das tat er. Er war im besten der Sinne der Tradition ein lokaler Rabbiner. Und wie.

Zugehen auf die Jugend

Über die Jahrzehnte faszinierte Schmelzer die Jugend. Die Studenten der Hochschule St. Gallen und ebenso die jüdischen Studentenschaften in St. Gallen hat er immer wieder in seinen Bann gezogen – ohne dass ihm das ein Ziel war. Seine Art des Dialogs, der Vermittlung der Offenheit bei eigener Klarheit, diese integre Art, offen und gleichsam bei sich selbst zu sein, fand Anklang. Auf Augenhöhe mit anderen trat Rabbiner Schmelzer in Dialog, ohne zu bekehren. Er lehrte eine ohne Mission. Seine Predigt war praktisch. Seine Reden waren zur Sache und damit zur Schrift. Seine Exegese eine Brücke zur Gemeinschaft. «Aufbrechen, lockern, ermöglichen, möglichst ohne zu ändern», nannte er seinen Zugang der Vermittlung zum Judentum. Dies tat er mit so feinem Humor, mit einer so subversiven Liebe, das seine Gegenwart Autorität nie durch Funktion, sondern durch Menschlichkeit und Menschenliebe blieb.

Zugleich war Hermann Schmelzer ein kritischer Denker, der die Entwicklung von Gesellschaft in der Geschichte und die Entfaltung des Judentums nicht kritiklos hinnahm. Auch in der eigenen Gemeinde. Er beobachtete genau, ohne sich einzumischen. Und er forderte oft mit dem besseren und immer geradlinigen Argument heraus. Der Dialog mit dem Christentum und dem Islam war ihm ein Herzensanliegen bei aller Klarheit seiner eigenen Positionen, die er nicht aufgab. Im Verstehen der anderen profilierte er das Judentum. Dieses verstand er so: «Mir ist das Glaubenselement, gepaart mit der Halacha, wichtig. Wissen allein ist nicht eine Komponente des Judentums. Innerhalb der Jüdischkeit gebe ich Raum für vieles, und damit meine ich auch gelebtes Judentum.» Das gelebte Judentum, das er in all seinen Formen, nämlich in der Verantwortung des je Einzelnen, zuliess.

Ende einer Epoche

Mit Hermann Schmelzer geht eine Ära der Rabbiner zu Ende, die an europäischen Rabbinerseminaren ausgebildet wurden. 44 Jahre lang wirke er als Gemeinderabbiner, als wahrer «talmid chacham» und ebenso als akademische Instanz an der Spitze der Jüdischen Gemeinde St. Gallen. Schmelzer hielt die kleine und bedeutende jüdische Gemeinde durch Respekt, Öffnung, Dialog und angewandtes Judentum zusammen. Im Jahre 2012, zum 150. Jubiläum der Jüdischen Gemeinde St. Gallen beendete er als Dienstältester Schweizer Rabbiner sein Amt. In St. Gallen führte er nicht nur die Einheitsgemeinde erfolgreich, sondern schaffte ein immenses jüdisches Werk durch Studium und Vermittlung sowie im Bereich des interreligiösen Dialogs. Und er traf eine Lebensentscheidung. Denn St. Gallen sollte er nie mehr verlassen. Den Lehrauftrag an der Hochschule St. Gallen über die verschiedensten Aspekte der Religionsgeschichte hatte er bis 2009 inne. Er diente der Universität zudem im Team der Studentenseelsorger.

Schmelzer war ein begnadeter Redner, ein tiefer Denker, mit Esprit und subtilem Humor. Als Rabbiner war er kein Bewahrer, sondern ein Ermöglicher; ein Freidenker und kein Ideologe, der den «minhag hamakom» in St. Gallen gestärkt und somit die Gemeinschaft durch die Gegenwart in die Zukunft geführt hat. Schmelzer war ein Zeitzeuge der Geschichte und des Lernens. Ein begnadeter Kenner des osteuropäischen Judentums und ein sorgender Familienmensch, der mit den wenigen Verwandten gerade in der Schweiz, in Amerika und Ungarn engen Kontakt pflegte. Am letzten Schabbat ist einer der bedeutendsten rabbinischen Gelehrten und jüdischen Humanisten gestorben. Am 17. November wurde er in St. Gallen beerdigt, nach seinem Wunsch ohne Reden. Das Schweizer Judentum hat Rabbiner Schmelzer über die Jahrzehnte kaum wahrgenommen, obwohl seine Brillanz weit über St. Gallen bekannt war. Er notierte das augenzwinkernd und letztlich nicht unfroh darüber, um diese Art der Aufmerksamkeit gekommen zu sein. Denn letztlich lag ihm nur etwas am Herzen – seine Gemeinde in St. Gallen und die Juden, die er in deren Umfeld begeistern konnte. Für das Schweizer Judentum ist der Verlust einer, den es nie wird bemessen können.

Yves Kugelmann

Yves Kugelmann ist Chefredaktor des jüdischen Wochenmagazins «Tachles», in welchem der Nachruf auf Hermann Schmelzer am 16. November erschienen ist. Kugelmann wurde 1971 in Basel geboren. Seit 1990 arbeitet er als Journalist, seit 1996 als stellvertretender Chefredaktor bei der Jüdischen Rundschau und ab 1998 als dessen Chefredakteur. 2001 wurde Kugelmann Chefredaktor bei der JM Jüdischen Medien AG, Herausgeberin von Tachles, Revue Juive und später des Aufbau. Im Dezember 2008 übernahm er die JM Jüdische Medien AG.

Yves Kugelmann/Toggenburg24