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05.12.2020

Die Vorzüge des Lebens im Verborgenen

Arthur Schopenhauer um 1815 (auf einem Bild von Ludwig Sigismund Ruhl )
Arthur Schopenhauer um 1815 (auf einem Bild von Ludwig Sigismund Ruhl ) Bild: PD
«Philosophieren mit Schopenhauer» ist heute das Thema von Ernst Ziegler, ehemaliger Stadtarchivar von St. Gallen

Der ehemalige St. Galler Stadtarchivar Ernst Ziegler beschäftigt sich nicht erst seit seiner Pensionierung mit dem grossen deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer. Für stgallen24.ch stellt Ziegler in unregelmässigen Abständen Preziosen aus Schopenhauers handschriftlichem Nachlass vor.

Als Individuum gehöre ich zu dem, was der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) in seinem Hauptwerk «Die Welt als Wille und Vorstellung» und anderswo «Fabrikwaare der Natur» nannte, zu den «gewöhnlichen Menschen».

Als solcher bin ich ein vom «Kärrner der Geschichte» zu einem «Kärrner der Philosophie» mutierter Zweibeiner ohne Federn und beibleibe kein Philosoph. Der «Kärrner der Philosophie» geht zurück auf Friedrich Nietzsche (188-1900), der in «Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben» schrieb: «Es kann keiner zugleich ein grosser Historiker, ein künstlerischer Mensch und ein Flachkopf sein: dagegen soll man nicht die karrenden, aufschüttenden, sichtenden Arbeiter geringschätzen, weil sie gewiss nicht zu grossen Historikern werden können; man soll sie noch weniger mit jenen verwechseln, sondern sie als die nöthigen Gesellen und Handlanger im Dienste des Meisters begreifen.»

Platon (428-348 v. Chr.) Bild: PD

Platon, Immanuel Kant (1724-1804) und Schopenhauer gehören zu meinen bevorzugten Philosophen. Schopenhauers Verehrung des Philosophen Platon (427-347 v. Chr.), «als welcher das wirksamste Erregungsmittel des philosophischen Geistes ist», kennen wir aus seinen Werken und aus seinen Briefen. Über einen Besuch der Tempel von Paestum 1819 schrieb Schopenhauer in seinem Lebenslauf: «Ich sah Neapel, zollte Pompeji, Herkulanum, Puteoli, Bajä und Cumä meine Bewunderung und kam bis Pästum, wo ich im Angesicht der uralten herrlichen, im Laufe von fünfundzwanzig Jahrhunderten nicht erschütterten Tempel der Poseidonstadt mit Ehrfurchtsschauer daran dachte, daß ich auf dem Boden stehe, den vielleicht Platons Fußsohle betreten.»

Kant schrieb in seiner «Kritik der praktischen Vernunft», die man so manchem Zeitgenossen zur Lektüre empfehlen möchte, die beiden wunderschönen Sätze: «Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.»

Immanuel Kant (1724-1804) Bild: PD

Über Schopenhauer fand ich eine herrliche Stelle in Charles Lewinskys (geb. 1946) Roman «Der Stotterer» von 2019: «Ihr Lieblingsautor? Arthur Schopenhauer. Mir gefällt die Unerbittlichkeit seiner Weltsicht. Wenn es nach mir ginge, müssten seine Werke die Bibel ersetzen.»

Als «gewöhnlicher Mensch» habe ich mir eine Notiz Schopenhauers in seinem «Gedankenbuch» mit dem Titel «Cholerabuch» zu Herzen genommen: «Ein denkender Kopf kann mit seinem Zeitalter zufrieden seyn, wenn solches ihm vergönnt in seinem Winkel zu denken, und sich nicht um ihn bekümmert; – und mit seinem Glück, wenn es ihm einen Winkel schenkt, in dem er denken kann, ohne sich um die Anderen bekümmern zu dürfen.»

So murmle ich denn manchmal in sternklarer Nacht Kants Sätze vor mich hin oder denke an den griechischen Philosophen Epikur aus Samos (341-270 v. Chr.), von dem der Ratschlag stammt: «Lebe im Verborgenen» bzw. «Lebe zurückgezogen» – was ja in dieser gefährlichen Zeit uns alten «Hochrisikofaktoren» leicht fallen sollte…

Ernst Ziegler, ehemaliger St. Galler Stadtarchivar