Home Region Schweiz/Ausland Sport Rubriken Agenda
Kantone
27.02.2021

«Allgemeinen Stumpfheit und Gedankenleere der Köpfe»

Arthur Schopenhauer auf einem Gemälde von Angilbert Goebels, 1859
Arthur Schopenhauer auf einem Gemälde von Angilbert Goebels, 1859
Der ehemalige St. Galler Stadtarchivar Ernst Ziegler beschäftigt sich nicht erst seit seiner Pensionierung mit dem grossen deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer.

Für stgallen24.ch stellt Ziegler in unregelmässigen Abständen Preziosen aus Schopenhauers handschriftlichem Nachlass vor. Heute: Philosophieren mit Schopenhauer, Teil 2.

Fortsetzung, den Teil 1 finden Sie hier.

Hinduismus und Buddhismus

Den Winter 1813/14 verbrachte Schopenhauer in Weimar, wo er die Freundschaft und den «vertrauten Umgang» Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) genoss; in vielen Gesprächen konnte er mit dem Dichter über die Farbenlehre und über «alle möglichen philosophischen Gegenstände» diskutieren.

Upanischaden wie die Bibel für das neue Testament

Während dieses Aufenthalts in Weimar begann sich Schopenhauer auch mit asiatischen Kulturen zu befassen und studierte unter anderem das «Oupnek’hat», «die zweifellos einflussreichste asiatische Quelle Schopenhauers». Es handelt sich dabei um eine lateinische Übertragung von fünfzig Upanischaden, die aber nicht auf Sanskrittexten beruht, «sondern auf einer 1656 entstandenen persischen Übersetzung». Die Upanischaden seien «für den Veda, was für die Bibel das Neue Testament ist», schrieb der Indologe und Übersetzer Paul Deussen (1845-1919). Es sind altindisch theologisch-philosophische Texte, und der Veda, das Wissen, ist der Name der ältesten Schriften der Inder, deren älteste Teile aus der Zeit vor dem ersten Jahrtausend vor Christus stammen.

Das Oupnek’hat, hsg. von Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron (1731-1805) Bild: Google Books

Urvater des Buddhismus in Deutschland

In einem wichtigen Kapitel zu diesem Thema mit dem Titel «Einiges zur Sanskritliteratur» schrieb der Philosoph: Wie atmet doch das «Oupnek'hat» durchwegs «den heiligen Geist der Veden». «Es ist die belohnendeste und erhebendste Lektüre, die (den Urtext ausgenommen) auf der Welt möglich ist: sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens seyn.»

Der «bekennende Atheist» Arthur Schopenhauer avancierte mit der Zeit «zu einem Buddhisten und letztlich zum Urvater des Buddhismus in Deutschland.» Ich würde Schopenhauer nicht – wie Thomas Regehly es getan hat – einen Atheisten nennen (auch wenn der Buddhismus eine atheistische Religion ist), sondern eher einen Agnostiker, von «agnos» und «agnosia», unbekannt, Unkenntnis, d. h. wir wissen nichts, nicht, ob es einen Gott gibt, nicht ob es ein Leben nach dem Tode gibt usw. Über Metempsychose und Palingenese, Seelenwanderung und Wiedergeburt, hat Schopenhauer viel nachgedacht und geschrieben.

Ich habe mich vor Zeiten, angeregt durch den indischen Arzt Selvarajan Yesudian (1916-1998) und das vergebliche Studium des Sanskrit an der Universität Basel, intensiv mit indischer Philosophie befasst und immer wieder darüber nachgedacht, was an Indischem sich im Neuen Testament finden könnte, schreibt doch Schopenhauer in den «Parerga und Paralipomena»: «Denn wie ein aus fernen tropischen Gefilden, über Berge und Ströme hergewehter Blütenduft, ist im N. T. der Geist der Indischen Weisheit zu spüren.»

Selvarajan Yesudian (1916-1998) Bild: Internet

In Sanskrit «Abstieg»

Wo war, frage ich, Jesus zwischen seinem zwölften und etwa seinem dreissigsten Lebensjahr? In Indien, in Ägypten? Man kennt vielleicht das umstrittene Buch von Holger Kersten (geb. 1951) «Jesus lebte in Indien» oder von Martin Koschorke (geb. 1939) «Jesus war nie in Bethlehem». In den Pandectae schreibt Schopenhauer aber: «Man könnte sich die Sache so vorstellig machen, daß Jesus, in Aegypten von Priestern, deren Religion aus Indien stammt, erzogen, zweierlei von ihnen angenommen hätte: 1°) die Indische Ethik. 2°) den Begriff des Avatars (…).» Kurz nach der Geburt Jesu musste Joseph nach Ägypten fliehen, wie der Evangelist Matthäus erzählt: «Da stand er auf, nahm des Nachts das Kindlein und seine Mutter mit sich und zog hinweg nach Aegypten. Und er blieb dort bis zum Tode des Herodes, […]» Nach dem Tode von Herodes dem Grossen (um 73-4 v.Chr.) 4 v.Chr., zog die «heilige Familie» in die Stadt Nazareth. War das der erste Aufenthalt von Jesus in Ägypten?

«Avatāra» ist Sanskrit und heisst «Abstieg», «Herabkunft». Das Wort bezeichnet in den indischen Religionen die Verkörperung eines Gottes auf Erden. Paulus (10 v.Chr.-60 n.Chr.) schrieb in seinem Brief an die Galater: «Als aber die Erfüllung der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn.» Christus war gemäss Paulus Gottes Sohn oder ein Gottmensch. «Der Heiland des Christenthums» war für Schopenhauer «jene vortreffliche Gestalt, voll tiefen Lebens, von größter poetischer Wahrheit und höchster Bedeutsamkeit, die jedoch, bei vollkommner Tugend, Heiligkeit und Erhabenheit, im Zustande des höchsten Leidens vor uns steht». Der Basler Kulturhistoriker und Schopenhauerianer Jacob Burckhardt (1818-1897) schrieb 1844: «Als Gott ist mir Christus ganz gleichgültig – was will man mit ihm in der Dreieinigkeit anfangen? Als Mensch geht er mir läuternd durch die Seele, weil er die schönste Erscheinung der Weltgeschichte ist.»

Hier wäre ein Kapitel einzufügen mit Urteilen Schopenhauers und Burckhardts über Mohammed und den Islam; aus Furcht vor einer Fatwa à la Salman Rushdie und weil ich noch nicht lebensmüde bin, verzichte ich darauf!

Der Buddhist Schopenhauer – in einem Brief schrieb er einmal «wir Buddhaisten» – dachte viel nach über Askese und schrieb immer wieder darüber. Er verehrte Buddha (um 560-um 480 v.Chr.), «den Siegreich-Vollendeten», lebte selber relativ bescheiden, aber lange nicht so abgeklärt wie Siddhartha, der Erleuchtete.

Julius Frauenstädt (1813-1879) und Arthur Schopenhauer (1788-1860) Bild: Internet

Schopenhauers alter Freund, «Erzevangelist» und erster Herausgeber seiner Werke, der Philosoph Julius Frauenstädt (1813-1879), schrieb, es habe Schopenhauer an «Nüchternheit im praktischen Leben» gefehlt und er habe «nicht jene persönliche Würde» gezeigt, «die man gewöhnlich mit dem Begriff eines Philosophen verbindet. Dies konnte ich nicht blos damals schon wahrnehmen, als er […] sein barsches Naturell gegen mich herauskehrte, so dass ich vorläufig meine Besuche bei ihm einstellte [...]. Auch sein Ton in seinen Briefen und sein Ton gegen seine Gegner, die Philosophieprofessoren und dänischen Akademiker, ist nicht immer der würdige, den man von einem Philosophen erwartet und der z.B. bei Kant überall anzutreffen ist.» Der Philosoph in Frankfurt versprühte Invektiven nach allen Seiten, in Gesprächen und Briefen, in seinen Gedankenbüchern – darüber könnte ich ein Liedlein singen –, in seinen Werken, so dass Arthur Hübscher (1897-1985) einen Beitrag schrieb mit dem Titel «Schopenhauer und die Kunst des Schimpfens» (1981), und Franco Volpi fügte bei, der Katalog von Beschimpfungen, Schmähungen, Injurien und Beleidigungen an alle möglichen Adressaten die er aus Schopenhauers Werken und seinem Nachlass aufgelesen und unter dem Titel «Die Kunst zu beleidigen» (2002) zusammengestellt habe, sei der Beleg hiervon.

Über den Lärm

Gehörig ärgern konnte sich der Philosoph auch über Alltäglichkeiten: Pfeifen, Trommeln, Heulen, Brüllen, Kindergeschrei und Hundegebell, Türenwerfen, Klopfen, Hämmern und Rammeln fand er zwar entsetzlich; «aber der rechte Gedankenmörder ist allein der Peitschenknall». Schopenhauer hat «das wahrhaft infernale Peitschenklatschen, in den hallenden Gassen der Städte» als den «unverantwortlichsten und schändlichsten Lerm» bezeichnet und geklagt, «daß eine solche Infamie in Städten geduldet wird, ist eine grobe Barbarei und eine Ungerechtigkeit; um so mehr, als es gar leicht zu beseitigen wäre, durch polizeiliche Verordnung eines Knotens am Ende jeder Peitschenschnur». Er sieht auch nicht ein – «bei allem Respekt vor der hochheiligen Nützlichkeit» –, wieso «ein Kerl, der eine Fuhr Sand oder Mist von der Stelle schafft, dadurch das Privilegium erlangen soll», jeden etwa aufsteigenden Gedanken in vielen Köpfen mit seinem vermaledeiten Peitschenknallen im Keime zu ersticken. In «Ueber Lerm und Geräusch» schimpft er kräftig drauflos. «Dieser plötzliche, scharfe, hirnlähmende, alle Besinnung zerschneidende, gedankenmörderische Knall muß von Jedem, der nur irgend etwas, einem Gedanken Aehnliches im Kopfe herumträgt, schmerzlich empfunden werden: jeder solcher Knall muß daher Hunderte in ihrer geistigen Thätigkeit, so niedriger Gattung sie auch immer seyn mag, stören: dem Denker aber fährt er durch seine Meditationen so schmerzlich und verderblich, wie das Richtschwerdt zwischen Kopf und Rumpf.»

Für den Philosophen ist der Lärm «die impertinenteste aller Unterbrechungen, da er sogar unsere eigenen Gedanken unterbricht, ja, zerbricht. Wo jedoch nichts zu unterbrechen ist, da wird er freilich nicht sonderlich empfunden werden.» Er hält «die allgemeine Toleranz gegen unnöthigen Lerm» (man könnte hier auch von einer gewissen Sorte heutiger «Musik» reden!) geradezu für «ein Zeichen der allgemeinen Stumpfheit und Gedankenleere der Köpfe», und «von der Gedankenlosigkeit des Menschengeschlechts» gibt ihm nichts «einen so großen Begriff, wie die ungehinderte Licenz des Peitschenklatschens».

Ernst Ziegler, ehemaliger St.Galler Stadtarchivar