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St. Gallen
29.02.2024

Leben in der Zelle: Das ist das Wiborada-Projekt

In dieser Zelle leben ab Ende April fünf Menschen je eine Woche lang.
In dieser Zelle leben ab Ende April fünf Menschen je eine Woche lang. Bild: Jonas Schönenberger
2021 wurde das Wiborada-Projekt ins Leben gerufen. In diesem Jahr lassen sich zum vierten Mal Menschen in eine gerade einmal zwölf Quadratmeter grosse Holzzelle am Rande der St.Mangenkirche einschliessen. Warum gibt es dieses Projekt? Und wie sieht die Zelle von innen aus?

13 Menschen haben sich in diesem Jahr beworben. Fünf von ihnen wurden ausgewählt. Die Kriterien ändern sich von Jahr zu Jahr, in diesem Jahr erhielten beispielsweise jüngere Bewerbungen den Vorzug. Vier der fünf Teilnehmer sind noch erwerbstätig. 2022 zog eine reine Frauengruppe ein, 2023 waren es fünf Männer.

Verantwortlich für das Wiborada-Projekt ist Hildegard Aepli. Die 60-jährige Theologin aus Vättis war 2021 die Erste, die eine Woche in der Zelle verbrachte. Ihr Ziel mit dem Projekt ist klar: «Wiborada war die erste Frau der Welt, die heiliggesprochen wurde. Und kaum jemand kennt sie.»

Die Legende von Wiborada

Wer ist also diese Wiborada? Sie wird um das Jahr 900 in eine wohlhabende Familie vom Bodensee geboren. Der Legende nach schwört sie schon in jungen Jahren dem Reichtum ab und entscheidet sich für ein zurückgezogenes, bescheidenes Leben – ohne Fleisch, ohne Alkohol und ohne Ehe.

Mit diesem Lebensstil beeindruckt sie auch Salomon, Bischof von Konstanz und Abt von St.Gallen. Sie zieht in ein kleines Haus neben der Klosterkirche. Ihr Ziel: Inklusin zu werden, also sich in einer Klause einschliessen zu lassen, um ein Leben im Gebet zu führen.

Wiborada von St.Gallen († 926) soll ein grosses Vorbild für die Bürger der Stadt gewesen sein. Bild: heiligederschweiz.ch

Ratgeberin für Stadt und Kloster

Diesen Wunsch erfüllt sie sich an Pfingsten 916. Sie wird in eine kleine Klause an der St.Mangenkirche eingemauert. In der Bevölkerung erfreut sie sich enormer Beliebtheit. Viele strömen vor ihr Fenster, um Rat zu suchen oder sich segnen zu lassen.

Im Jahr 925 warnt sie Abt Engilbert vor einem Einfall der Ungarn, den sie in einer Vision gesehen haben soll. Die Bevölkerung der Stadt und die Mönche können flüchten und die Bücher und Schätze des Klosters in Sicherheit gebracht werden. Wiborada jedoch bleibt zurück.

Das grosse schwarze Rechteck zeigt die Position der alten Zelle von Wiborada, die kleinen roten zeigen die Position ihres Grabes. Links das Fenster, das von der St.Mangenkirche in die Zelle führt. Rechts eine der wenigen Statuen von Wiborada. Bild: Jonas Schönenberger

Tod als Märtyrerin

Als die Ungarn dann tatsächlich am 1. Mai 926 in St.Gallen einfallen, finden sie nichts vom erhofften Klosterschatz, dafür jedoch die Zelle von Wiborada. In der Hoffnung, das Versteck für den Schatz gefunden zu haben, bauen sie die Zelle ab. Als sie jedoch nur die Inklusin finden, töten Sie sie mit drei Axthieben.

121 Jahre später, im Jahr 1047 wird Wiborada heiliggesprochen – laut Kanon als erste Frau der Welt. Sie ist damit eine der drei Stadtheiligen von St.Gallen, steht aber deutlich im Schatten von Gallus und Otmar. Es gibt kaum Statuen oder Abbildungen von ihr. Das möchte Aepli ändern: «Wir wollen Wiboradas Popularität in der Bevölkerung steigern.»

Die Inschrift zum Tod Wiboradas an der Wand der St.Mangenkirche. Bild: Jonas Schönenberger

Leben mit einfachsten Mitteln

Ganz so extrem wie bei Wiborada leben die Inklusen 2024 jedoch nicht. In der Zelle befinden sich ein Baustellen-WC, das zweimal pro Woche gereinigt wird. Fliessendes Wasser gibt es keines, dafür steht den Bewohnern ein Wassertank mit acht Litern Wasser pro Tag zur Verfügung. Der Inhalt dient als Trinkwasser und zur Körperpflege. Eine Dusche gibt es jedoch nicht, man kann sich lediglich mit einem Lappen oder über einer Schüssel waschen.

Oben links der 8-Liter-Wassertank, unten links die Schüssel zur Körperpflege. Dazu Wasser- und Kaffeekocher, Besteck und Tee... In der Zelle ist das Nötigste zum Überleben vorhanden. Bild: Jonas Schönenberger

Für Essen ist ebenfalls gesorgt. Am Morgen erhalten die Teilnehmer einen Kaffee und ein Stück Brot. Das Mittagessen wird von Freiwilligen zubereitet, die sich nach wie vor online bewerben können. In der Regel bleibt dann noch etwas für den Abend übrig. Zweimal pro Tag, zwischen 13.30 Uhr und 14.30 Uhr sowie zwischen 17.30 Uhr und 18.30 Uhr, steht zudem das Fenster der Zelle offen für Gespräche mit allfälligen Besuchern. «Meistens bringen diese dann auch noch Essen mit», erzählt Hildegard Aepli.

Für den Notfall liegt in der Zelle immer ein Schlüssel bereit und allenfalls könnte man auch durchs Fenster «flüchten». «Wenn jemand aus irgendeinem Grund plötzlich merkt, dass er oder sie es nicht mehr länger aushält oder eine Panikattacke bekommt, dann soll man das Projekt beenden können», so Aepli.

Umgeben von zwei grossen Bäumen schmiegt sich die Wiborada-Zelle an die St.Mangenkirche. Bild: Jonas Schönenberger

Gebet und Meditation

Die Zeit in der Zelle sollen die Teilnehmer ganz sich selbst und Gott widmen. Digitale Geräte sind keine erlaubt, auch keine Romane, spirituelle Literatur wie die Bibel oder Gebetsbücher hingegen schon. Gebet und Meditation gehören zum Alltag in der Zelle dazu. An einer Wand steht ein kleiner Gebetstisch, manche Teilnehmer nehmen auch eine Yoga-Matte mit.

Wiborada machte ausserdem Handarbeit, weswegen diese auch auf der Packliste der Teilnehmer stehen muss. Von Besuchern erhalten die Inklusen immer wieder Fürbitten, die sie vor Gott bringen sollen, so wie es damals Wiborada für die Bevölkerung der Stadt St.Gallen getan hat.

Das kleine Fenster, das die Zelle mit der Kirche verbindet Bild: Jonas Schönenberger

Vorbereitung muss sein

Die fünf Inklusen bereiten sich in drei Vorbereitungstreffen auf ihre Woche in der Zelle vor. Dort klären sie die wichtigsten Fragen. Was nehme ich mit in die Zelle? Was steht mir dort zur Verfügung? Wie gehe ich mit Besuchern am Fenster um? Sie lesen aber auch die Geschichte von Wiborada und vom Inklusentum und bereiten sich so auf ihr Abenteuer vor.

Judith Bischof (62) aus St.Gallen wird am 26. April den Anfang machen, sie ist Sachbearbeiterin im sozialen Bereich. Ab 3. Mai wird der ehemalige Stadtpfarrer von St.Gallen, Hansruedi Felix (67), in der Zelle wohnen. Auf ihn folgt am 10. Mai Cathrin Legler (49), evangelisch-reformierte Pfarrerin aus Kreuzlingen. Der jüngste im Bunde, Gabriel Imhof (32), zieht am 17. Mai ein. Den Abschluss macht ab dem 24. Mai Judith Hosennen (58) aus St.Gallen. Sie ist zurzeit noch Mitarbeiterin bei der SOB, macht aber ab Mitte Mai eine Weiterbildung als Sterbe- und Trauerbegleiterin.

Bereits jetzt werden Interessierte für das Wiborada-Projekt 2025 gesucht. Die Projektverantwortlichen wollen Personen aus der Stadt und Auswärtige, Menschen aus verschiedenen Konfessionen sowie Männer und Frauen ausgeglichen halten. Der Bewerbungsbogen ist auf der Homepage des Wiborada-Projekts aufgeschaltet.

Freiwillige, welche die fünf Teilnehmer unterstützen wollen, können sich ebenfalls auf der Homepage des Wiborada-Projekts bewerben.

Jonas Schönenberger